Felsbilder

In der Provinz Brescia, oberhalb des Lago d’Iseo, zieht sich das Camunertal in Richtung Schweizer Grenze in die Alpen hinein. Die Hauptachsen des Nord-Südverkehrs liegen allerdings weiter westlich bei Lugano oder östlich über den Brenner. So ist die Gegend um Capo di Ponte relativ dünn besiedelt und ein wenig zurück geblieben. Für uns ein Sehnsuchtsort wegen des einmaligen Reichtums an Felsritzbildern, von denen man 14000 gezählt haben will. Wir fahren das Tal hinauf, das Olio-Flüsschen entlang, und auf beiden Seiten werden die Berge immer höher und die Berghänge immer steiler. An den Hängen sind grosse Felsbrocken vom Gletschereis in den Eiszeiten zu tischplattenartigen Flächen abgeschliffen worden, – eine Einladung an Menschen mit künstlerischen Neigungen, die schon vor 9000 Jahren offenbar gern angenommen wurde, und nach der Jungsteinzeit über die Kupferzeit, die Bronzezeit und die Eisenzeit bis in die Römerzeit fortgeführt worden ist. Zugleich ein Tagebuch der Kulturen, das den Wechsel zum Ackerbau und zur keltischen Kultur ausgiebig illustriert. Dass dies Museum am Originalschauplatz unter offenem Himmel mit seiner Variante der europäischen Geschichte immer noch zu den Geheimtipps zählt, obwohl es gerade mal drei Autostunden vom Gardasee liegt, hängt vielleicht mit dem understatement des Auftritts zusammen. Die touristische Infrastruktur steckt in den Anfängen, obgleich wir auf unseren italienischen Exkursionen noch keine bessere Pizza gefunden haben als die im „La Pieve“ in Capo di Ponte. Die Landschaft jedenfalls ist grandios, die Felsbilder atemberaubend.

In Foppe di Nadro (am südlichen Ende des über viele Kilometer ausgedehnten Gebiets der Felsenbilder-Ansammlungen) stösst man am Wegesrand auf diese Zeichnung, eine der frühesten, sie ist auf 9000 Jahre Alter geschätzt worden. Man sieht den Kreis mit dem Punkt in der Mitte, das Kulturen übergreifende Zeichen der Sonnenscheibe, und einen Mann. Dass es sich um einen Mann handelt, ist an der streifenförmigen Einkerbung zwischen den Beinen ablesbar. Frauen stellten die Felsritzer über Jahrhunderte hin mit Hilfe eines Punktes zwischen den Beinen dar. Die Umrisse des Bildes sind von einem spitzen Stein durch Schläge mit einem schwereren stumpfen Stein splitterweise aus der glatten Dolomitfläche herausgetrieben worden. Und diese gleiche Methode wurde über Jahrtausende ziemlich unverändert weiter bei sämtlichen dieser Felsbilder angewandt. Wissenschaftlich „entdeckt“ wurden die Graffiti Ende des 19. Jahrhunderts, als das Gebiet österreichisch war und Wiener Professoren die Deutungshoheit zufiel. Die Einheimischen hatten die Figuren pitoli genannt, „Hampelmänner“, aber nun hiess es, dass die ausgestreckten Arme eine Haltung des Gebets zeigen, und die stilisierten Wiedergaben unseres Fotos, das inzwischen zum Emblem der ganzen Anlage geworden ist, sprechen alle vom „Sonnenanbeter“.

Ich glaube eher, es ist das Bild eines Tanzenden. All die vielen Bilder von pitoli – und diese präsentieren, neben den Bildern von Hirschen, die grosse Masse aller Felsbilder – sind Bilder von Tanzenden oder von Betend-Tanzenden. Der Unterschied zwischen Tanz und Gebet fällt bei Menschen früher Kulturen wohl weniger ins Gewicht als für uns Heutige, die wir die Sphären des Weltlichen und des Spirituellen gewohnheitsmässig auseinander halten.

Dschelaleddin Rumi, der altpersische Mystiker, wurde der Legende zufolge zum Tanz durch die rhythmischen Hammerschläge eines Goldschmieds inspiriert in der finstersten Phase seines Lebens, als er nicht mehr zu Allah zu beten vermochte: Da erfuhr er das Tanzen am eigenen Leib als Gebet. Mir ist, als ob das uralte Felsbild diese jüngere Legende illustriert. Interessant auch eine verwandte Frage, die sich mir angesichts des Feldbilds aufdrängt: Was ist zuerst da gewesen, eher die Gottheit – in Gestalt des Sonnengotts, der keltischen, der römischen Gottheiten, als Allah, als dreifaltiger Gott der Kirche – oder eher Tanz und Gebet? Könnte es sein, dass die Menschen zuerst tanzten, und erst anschliessend den Adressaten ihrer frommen Gefühle anzusprechen suchten? Könnte es sein, dass die spirituelle Seite unserer Erfahrung lange vor jeder theologischen Erörterung anhob? Im zauberhaften Strahl der Sonne, der mich vom Berggipfel her trifft, tanze ich selber, den pitolo an der Sonnenscheibe nachahmend; Zorba der Grieche fällt mir ein, tanzend am Meeresstrand. Eine leichte Übung, finde ich, die mir hilft, hier zu sein und mit dem Hiersein einverstanden zu sein.

Das Bild der tanzenden Frauen stammt vom grossen Felsen in Naquane, auf dem Olio-aufwärts rechterhand gelegenen Hang oberhalb des Städtchens Capo di Ponte, wahrscheinlich Zentrum und Hauptmagnet des Graffiti Parks, obzwar auch der Hang auf der anderen Seite und weiter entfernt verstreute Felsen beste Gelegenheiten für schönste Entdeckungen bieten. Sie tanzen aufrecht vor einer waagerecht liegenden Gestalt, die nach genau dem gleichen an eine Büroklammer erinnernden Muster dargestellt ist. Ob es ein Totentanz ist oder ein Initionstanz, weiss man nicht.

Das Strichmännchen-Klischee der Tanzenden kehrt immer wieder und taucht wie eine Leitmelodie auf Dutzenden der Bildtafeln immer wieder auf. Vielleicht ein Kürzel auf dem Weg zum Schriftzeichen: „Wir waren da, tanzend“. Nur wenige Bilder zeigen die Meisterschaft beim Ausdruck körperlicher Bewegungen, die den Künstlern erreichbar war und eher noch in der Darstellung von Tieren zum Vorschein kommt.

So plump die Beine des Tiers erscheinen, so unverkennbar spricht doch die Wölbung des Rückens, die Drehung des Schweifes, die Haltung des Kopfes für einen Fuchs, und nicht etwa für einen Wolf oder einen Hund. Die Zeichnung ist, wie die meisten nichtfotografischen Abbildungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Frottage oder Rubbelbild, wobei ein Papierbogen auf dem Felsbild mit einer Bleistiftspitze abgerieben wird.

Auffällig die Massen von Hirschen auf den Felsentafeln, fast alle mit sorgfältig ausgemeisselten Geweihen. Eine gelehrte Spekulation meint, hier im Camunertal den Ursprung des keltischen Gottes Cernunnos – der mit dem Hirschgeweih – auszumachen, und tatsächlich zeigt eine der Ritzzeichnungen eine an die zwei Meter hohe Gestalt von einer Mächtigkeit des Leibes, die völlig aus dem Rahmen fällt, mit einem Hirschgeweih auf dem Schädel. Es gibt einige Bilder von Hirschreitern, die viele Vermutungen hervorgerufen haben. Wie überhaupt dieser ganze Bilderschatz eine Maschine zur Erzeugung von Spekulationen ist.

Einer der studentischen Praktikanten, die in Naquane arbeiten, führte Elisabeth und mich vor ein besonders elegant ausgeführtes Hirschbild und erklärte, dass hier der Beweis für eine Verbindung der keltischen Kultur des Camunertals zur altgriechischen Kultur zu sehen sei, denn dieser Hirsch weise ohne Zweifel all die Merkmale griechischer Bildkunst auf.

Ich selbst bin von einem Bild fasziniert, das einen Reiter auf einem Hirschrücken zeigt. Der Reiter steht auf dem Rücken des springenden Tieres und hält in der rechten Hand ein Schild (?), auf der linken einen Papagei (?) empor. Der Hirsch ist offenbar mit einem Pferdeschweif geschmückt, von dem Punkte (Sterne?) aufzustieben scheinen. Das Ganze von einer Leichtigkeit, die angesichts des Mediums – dem Abschlagen von Felssplittern – schwer fassbar ist.

Ob die Camuner tatsächlich auf Hirschen zu reiten verstanden, oder ob dies alles eher als künstlerische Freiheit, eine Art Vorläufer gallischen Ästhetisierens, zu nehmen sei, ist eine der Fragen, die Diskussionen auslöste, vor allem zur Körpergrösse der Camuner. Da diese Frage immer noch nicht entschieden ist, erlaube ich mir zwei Hinweise:

1. Möglicherweise können Hirsche menschliche Reiter tragen, u.U. auch solche „normalen“ Gewichts. Die Plausibilität dieser Vermutung wird von Beobachtungen sibirischer Rentierzüchter gestärkt, die auf ihren Rentieren gewohnheitsmässig reiten und die Rentiere mit Sattel und Zaumzeug ausstatten. M.E. sind Hirsche grösser und wahrscheinlich ebenso kräftig wie Rentiere. Wäre es nicht einen Versuch wert, das Reiten auf Hirschen auszuprobieren?

Im Greenpeace-Buch „Die Farben der Arktis. Das Porträt einer atemberaubend schönen Region“ 2019 ist dies Foto enthalten, aufgenommen von Bernd Römmelt bei den Dolganen, einem sibirischen Rentierzüchtervolk,

2. Funde der Knochen und Geweihe von Riesenhirschen, etwa in Irland, belegen die Ausbreitung einer inzwischen ausgestorbenen riesenwüchsigen Hirschart. Man wird nicht ohne weiteres ausschliessen können, dass Populationen derart grosswüchsiger Hirsche in den Alpenwäldern zeitgleich mit menschlichen Siedlern lebten, und zwar wegen eines Felsenbildes aus Naquane, das für sich selbst spricht.

Ein Riesenhirsch, fürwahr, aber handelt es sich hier um eine Jagdszene oder um die Bekanntgabe an uns Nachgeborene: „Hier in diesem Tal hat es Riesenhirsche gegeben!“? Wir hocken neben einem über und über mit ausgemeisselten Bildern bedeckten Felsen. Die Septembersonne erwärmt den Stein, der von kleinen Kakteen umsäumt ist, die aus Indien stammen und sich hier mit den Schneemassen des Winters seit einigen Jahrzehnten zu arrangieren verstehen. Die Welt ändert sich, aber bleibt voller Mirakel.

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