
Am besten fange ich am anderen Ende an und schwärme Ihnen von einem kurzen wunderbaren Text vor (gerade mal 100 Seiten), den der Philosoph Isaiah Berlin über den grossen Schriftsteller Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi im Jahre 1953 geschrieben hat. Berlin zeigt, mit welchem Scharfsinn Tolstoi die Schwächen all der grossen Ideen zu entlarven verstand, die im 19. Jahrhundert im Schwange waren, und wie dieser Scharfsinn nie ohne Zynismus auftrat, und wie man darin eine Art Verzweiflung erkennen konnte. Der Roman „Krieg und Frieden“ decke die Hilflosigkeit zumal der Generäle auf, die beim Verlauf der Schlachten des Krieges keinen Überblick haben konnten, nicht mehr und nicht weniger als die einzelnen Soldaten beim Geschäft des Tötens und Sterbens, und diese bewahrten manchmal doch wenigstens eine Ahnung von etwas Anonymem, einem kaum zu greifenden Sinn, in dem das Geschehen irgendwie aufgehoben war. Am Ende seines Essays fasst Berlin sein vernichtendes und (mich jedenfalls) sehr berührendes Porträt Tolstois zusammen:
„Gleichzeitig von irrwitzigem Stolz und von Selbsthass angefüllt, allwissend und alles und jedes bezweifelnd, kalt und von gewalttätiger Leidenschaft zugleich, voll Verachtung gegenüber anderen und voll Erniedrigung seiner selbst, von Schmerz getrieben und im Abstand verharrend, von einer ihn bewundernden Familie, ihm ergebenen Anhängern, ja von der Bewunderung der gesamten zivilisierten Welt umgeben, und doch fast vollständig isoliert, ist er der tragischste aller grossen Schriftsteller, ein verzweifelter alter Mann, über jede menschliche Hilfe hinaus, selbstgeblendet unterwegs in Kolonos.“ (Isaiah Berlin: The Hedgehog and the Fox. An Essay on Tolstoi’s View of History. Chicago: Ivan R. Dee 1993, S. 81; übers. H.S. Die deutsche Ausgabe erschien im Jahr 2009: Der Igel und der Fuchs. Essay über Tolstojs Geschichtsverständnis. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2009, 105 Seiten)
Berlins Essay gehört längst zur Pflichtlektüre des Literaturstudiums an den Hochschulen der englischsprachigen Welt. Das liegt auch an der genial einfachen Frage, auf die der Philosoph seine Untersuchung zugespitzt hat: Igel oder Fuchs? Die Frage ergibt einen Sinn erst im Licht der Aussage des altgriechischen Dichters Archilochos (680 – wahrschl. 645 v. u. Z.): „Der Fuchs weiss vieles, doch der Igel weiss eine grosse Sache.“ Berlin sieht da die Möglichkeit, einen tatsächlich generell bedeutsamen Unterschied unter den Dichtern und Denkern zu treffen. Die einen führen alles, was ihnen begegnet, „zentripetal“ auf eine einzige bedeutsame Mitte zurück (Igel). Die anderen finden in sämtlichen Erscheinungen und Überlegungen einen eigenen Anspruch, der sie „zentrifugal“ davon abhält, eine zusammenfassende Schau zu entwickeln (Fuchs). Berlin gibt folgende Beispiele für auf Anhieb einzuordnende Geistesgrössen: Dante, Plato, Lukrez, Pascal, Hegel, Dostojewski, Nietzsche, Ibsen, Proust seien in unterschiedlichem Grade jeweils Igel, Shakespeare, Herodot, Aristoteles, Montaigne, Erasmus, Molière, Goethe, Puschkin, Balzac, Joyce auf ihre Weise jeweils ein Fuchs gewesen. Diese Aufzählung lädt zur Weiterführung ein. Man beginnt unwillkürlich damit, die eigenen Favoriten durch diese Lupe zu betrachten. Und von dort aus ist es nur ein kleiner Schritt weiter zu einer Art Gesellschaftsspiel, bei dem man Freunde und Bekannte als Igel oder Füchse analysiert.
Die Grösse von Berlins Text liegt darin zu zeigen, wie tief das so spielerisch erscheinende Hilfsmittel zu schürfen vermag. Tolstoi ist ihm durch und durch ein Fuchs, der tausend Wege im Kopf hat, auf allen Hochzeiten zu tanzen versteht und auch alle Tricks kennt, mit denen sich Menschen in die eigene Tasche lügen, und doch auch einer, der sich verzehrt in uneingestandener Sehnsucht nach einer Wahrheit, einer religiösen Mitte, die zu finden ihm verwehrt ist. Ich stelle mir vor – so viele Jahre nach dem Erscheinen von Berlins Essay 1953 taucht der aktuelle Gedanke geradezu wie von selbst auf – , dass dieser Fuchs sich ähnlich danach sehnt, ein Igel zu sein, wie ein im falschen Körper geborener Mensch danach, ein Mann oder eine Frau zu sein.
Ich bin nicht sicher, ob die Frage „Igel oder Fuchs?“ überall, wo sie gestellt wird, mit dem tiefen Engagement Berlins bearbeitet wird. Aber inzwischen tritt sie in der Literaturkritik immer wieder zutage, und nach dem Erscheinen des Büchleins auf Deutsch hat sie auch flugs in den deutschen Literatur- und Lehrgangsbetrieb Eingang gefunden. (Das Internet ist voller Beiträge.) Eine interessante Anwendung von Berlins Analyse-Instrument auf meine hoch geschätzte Annie Dillard hat der amerikanische Literaturkritiker William Deresiewicz 2016 in einem Artikel der Zeitschrift Atlantic vorgelegt, der im Anhang der Neuausgabe von „Pilgrim am Tinker Creek“ in Auszügen abgedruckt worden ist. (William Deresiewicz: Wo bist du geblieben, Annie Dillard? In: Annie Dillard: Pilger am Tinker Creek. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Karen Nölle sowie einem Essay von William Deresiewicz. Berlin: Matthes & Seitz 2016, S. 339 – 347) Die Überschrift „Wo bist du geblieben, Annie Dillard?“ spielt auf das Verstummen der Schriftstellerin an, die seit dem Roman „The Maytrees“ (2007) nichts Neues mehr veröffentlicht hat. Ich habe darüber in meinem Blog (s. oben) „Fossil Love“ berichtet. Anders als Berlin bei Tolstoi, verfolgt Deresiewicz die Fuchs-Igel-Affinität nicht als Leit-Thema über den Text hin, sondern kommt erst zum Schluss unvermittelt darauf zu sprechen:
„Dillard ist ein Igel, der sich als Fuchs verkleidet. Sie vermittelt den Eindruck, viele kleine Dinge zu wissen – über die unzähligen Naturphänomene, die sie so fantastisch zu sehen und zu beschreiben versteht -, aber sie weiss in Wirklichkeit ein grosses Ding. Sie weiss, dass wir mit Seelen geboren werden, aber in Körpern sterben. Das ist etwas sehr Grosses. Das Grösste. Sie ist die Königin der Igel. Doch es ist und bleibt nur ein Ding. Und ich denke, das könnte eine Erklärung für ihren Übergang in Schweigen sein.“ (S. 346/347)
Dies Schlusswort überrascht mich. Es ist das erste Mal, dass die Gegenüberstellung von Seelengeburt und Körpersterben auftaucht. Ein solcher Schlüssel ist dem vorhergehenden Deresiewicz-Text nicht zu entnehmen, und ich habe auch in Annies Schriften nichts entdecken können, das hier kompatibel wäre. Noch problematischer finde ich den Vorschlag, in der Igelheit Annies die Erklärung „für ihren Übergang ins Schweigen“ zu suchen oder zu finden. Will Deresiewicz etwa sagen, dass ältere Igel irgendwann ihr Pulver verschossen haben?
Die Analyse erscheint mir wenig gründlich und lässt mich einigermassen ratlos, aber im Bemühen, konstruktiv zu bleiben, möchte ich daran erinnern, dass Annie in ihren Schriften das Problem der Rechtfertigung Gottes („Theodizee“) immer wieder ins Spiel bringt. Wäre es nicht eine interessante Frage, wie weit diejenigen, die zur Anklage Gottes wegen des Leides der Kreatur neigen, Füchse sind, und die anderen, welche dazu neigen, ihren Frieden zu schliessen, trotzdem sie vergeblich nach der Antwort suchen müssen, eher Igel? Man müsste die Anwendungen des Berlinschen Analyse-Instruments aus den literaturwissenschaftlichen Essays sammeln und die Plausibilität der Ergebnisse insgesamt untersuchen. Womöglich hängt deren Erkenntniswert eher von der hermeneutischen Kompetenz und der Sachkenntnis derer ab, die das Igel-Fuchs-Schema anwenden, als von dessen blosser Anwendung.

Archilochos‘ Spruch – im Griechischen noch kürzer als im Deutschen Πόλλ᾽ οἶδ᾽ ἀλώπηξ, ἀλλ‘ ἐχῖνος ἕν μέγα (sprich: Polloid alopix, all echinos hen mega) – stellt lediglich das Vielwissen dem Wissen einer grossen Sache gegenüber. Der Dichter war Berufssoldat. Es ist nicht auszuschliessen, dass er an zwei unterschiedliche militärische Strategien dachte. Dem Spruch ist jedenfalls keine moralische Einfärbung zu entnehmen, weder auf den Igel bezogen, etwa als „bewaffneter Friedensheld“ im Sinne des bekannten Gedichts von Wilhelm Busch, noch auf den Fuchs gemünzt, dessen Verschlagenheit wohl angesprochen ist, aber nicht beurteilt wird. Beim genauen Lesen kann ich dem Spruch auch nicht entnehmen, dass die Strategie der einen grossen Sache der Strategie der vielen Wege stets überlegen sei: Archilochos gibt lediglich zu bedenken, dass beide Modi verfügbar sind.
Offensichtlich hat der Fuchs (Vulpes vulpes) in dem Zeitraum, der seit dem Tod des griechischen Soldatendichters vergangen ist (2380 Jahre), Ansehen verloren, und wahrscheinlich hängt sein schlechter Ruf mit kulturellen Einflüssen zusammen, die womöglich auch das Urteil ungewollt trüben, das zeitgenössische Literaturkritiker über Dichter und Denker anhand der Igel-Fuchs-Gegenüberstellung fällen. Während des Mittelalters hat die vom Christentum bestimmte Sicht das Bild der Tierwelt in Europa geprägt. Die Verschlagenheit von Füchsen machte sie zum Sinnbild der Ketzerei und führte dazu, dass sie regelmässig mit einem geraubten Hahn im Maul dargestellt wurden. Das „Bestiarium“ (Bestiarium. Das Tier in mittelalterlichen Handschriften. Aus dem Französischen von Gisella Vorderobermeier. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2020) enthält wunderschöne Illustrationen aus mittelalterlichen Handschriften, die diese Wahrnehmung des Fuchses belegen. Und die weltliche Literatur, sobald sie unter der kirchlichen Decke hervorlugen konnte, übertrug die Vorstellung vom skrupellosen Lügner und Betrüger auf die Erzählungen von „Reinaert“ (1487) und „Reinke de Vos“ (1498), dem Helden in einer moralisch verdorbenen, gewalttätigen Welt. Goethes „Reineke Fuchs“ (1794) beschreibt vordergründig den Triumph der Hinterlist und Brutalität des Fuchshelden in einer Gesellschaft, die diese Wesenszüge belohnt. Aber da ist noch etwas anderes. Eine Leichtigkeit, die Goethe selbst als psychotherapeutische Wirkung angesichts der Greuel der Französischen Revolution erklärt:
„Auch aus diesem grässlichen Unheil suchte ich mich zu retten, indem ich die ganze Welt für nichtswürdig erklärte, wobei mir denn durch eine besondere Fügung ‚Reineke Fuchs‘ in die Hände kam. Hatte ich mich bisher an Strassen-, Markt- und Pöbelauftritten bis zum Abscheu übersättigen müssen, so war es nun wirklich erheiternd, in den Hof- und Regentenspiegel zu blicken; denn wenn auch hier das Menschengeschlecht sich in seiner ungeheuchelten Tierheit ganz natürlich vorträgt, so geht doch alles, wo nicht musterhaft, doch heiter zu, und nirgends fühlt sich der gute Humor gestört.“
Die erheiterte Toleranz gegenüber der füchsischen Verschlagenheit in einer brutalen Welt, die hier zutage tritt, mag manche befremden. Aber die Freude am Schelmenhaften durchzieht die Literatur wohl überall und von Anfang an. Es ist eine Melodie, die uns Heutigen auch die positive Einschätzung näher bringen kann, die etwa indigene Kulturen in ihren Schöpfungsmythen für das trickreiche Verhalten trickreicher Lebewesen zeigen. Barry Lopez hat einschlägige Schelmen- und Schöpfungsgeschichten in einer Sammlung vorgelegt, die 1996 unter dem Titel „Der listige Coyote. Was sich Indianer am Lagerfeuer erzählen“ auf Deutsch erschienen ist (Göttingen: Lamuv; der englischsprachige Titel sagt es genauer: Giving Birth to Thunder, Sleeping with his Daughter. Coyote builds North America. 1977) Und in einer wunderbar ausführlichen, gründlichen und umsichtigen Studie hat Lewis Hyde (Verfasser von „Die Gabe“) die weltweite Verbreitung des Vorstellungsmusters verfolgt, wonach es die Figur des „Tricksters“ ist, des Verschlagenen, welche die Welt erschafft, indem sie der hermetischen Verschlossenheit der Dinge gewissermassen das Licht und das Leben abluchst, – Hermes in Griechenland, Eshu in Westafrika, Krishna in Indien, Koyote in Nordamerika und so weiter. (Lewis Hyde: Trickster Makes This World: Mischief, Myth and Art. 2010). Der Fuchs ist der Trickster, bei Archilochos wie bei Goethe, aber seine Verschlagenheit findet in unserem moralischen Universum keinen Platz mehr, obgleich sie doch immer in der Welt war und womöglich in dem fortwährenden Entstehungsprozess des Lebens eine entscheidend wichtige Rolle spielen könnte.
Man mischt kulturelle Einflüsse in das Bild von Lebewesen, die tatsächlich da sind und ein eigenes, von uns nicht begriffenes Leben führen. Das Bild, das wir uns machen, erspart uns die Mühe, das abgebildete Lebewesen selbst zu betrachten. Der Fuchs erscheint gegenwärtig vielen Zeitgenossen zwar als ästhetisch besonders ansprechende Gestalt, wird aber gleichzeitig misstrauisch als Tollwutverdächtiger und möglicher Träger des Fuchsbandwurms wahrgenommen, der einem das Blaubeersammeln im Walde vermiest. Das mieseste Image hat er wohl unter Jägern. Man darf hoffen, dass die Darstellung Alfred Brehms im „Thierleben“ (1876) nicht mehr die heute vorherrschende Einstellung spiegelt. (Vielleicht hat inzwischen der wieder im Land sich ausbreitende Wolf die Rolle des Hauptbösewichts übernommen, aber das könnte sich bei der nächsten Tollwut-Kampagne rasch ändern.) „Reineke ist der Jägerei ungemein verhasst, steckt deshalb jahraus jahrein im Waldbanne und ist vogelfrei: für ihn gibt es keine Zeit der Hegung, keine Schonung. Man schiesst, fängt, vergiftet ihn, gräbt ihn aus seinem sicheren Baue und schlägt ihn mit dem gemeinen Knüppel nieder, hetzt ihn zu Tode, holt ihn mit Schraubenziehern aus der Erde heraus, kurz, sucht ihn zu vernichten, wo immer nur möglich und zu jeder Zeit. Wäre er nicht so gescheit und schlau: der Mensch hätte ihn längst vollkommen ausgerottet. Bei allen Jägern gilt es als Evangelium, an welchem zu rütteln unverantwortliche Ketzerei ist, dass der Fuchs eines der schädlichsten Tiere des Erdenrunds sei und deshalb mit Haut und Haar, Kind und Kindeskind vertilgt werden müsse. Das sonst offene Weidmannsgemüt schreckt vor keinem Mittel zurück, nicht einmal vor dem gemeinsten und abscheulichsten, wenn es sich darum handelt, den Fuchs zu vernichten“ (Brehm’s Thierleben. Die Säugetiere 2. Nachdruck der Ausgabe von 1876 Frankfurt/M. – Berlin – Wien: Ullstein 1980, S. 38)
Es fällt mir schwer, das vielleicht diplomatisch Erwünschte zu tun und die Brehmsche Darstellung als übertrieben zu bezeichnen. Während der Tollwutepidemie in den Sechzigerjahren – der Fuchs galt als „Hauptüberträger“ – war die so genannte Begasung von Mutterbauen verbreitet. Bei meinen Streifzügen in den Hessischen Wäldern stiess ich in jener Zeit auf einen Hügel, der mir als eine Art Monument erschien, das ich noch vor mir sehe: Eine Fuchsburg mit einem Dutzend verschiedener Eingangslöcher, die alle versperrt waren mit mehreren in die Höhlen hinein getriebenen Stangenhölzern: Kein Entkommen. Drei dunkelblaue Gaskartuschen von gleicher Form wie die für Campinggas lagen entleert, mit geöffneten Ventilen, vor den am tiefsten gelegenen Höhleneingängen. Ich griff eine auf und las auf dem Etikett „Cyanosil“, den, wie ich damals vermutete und heute weiss, neuen Namen für „Zyklon B“, das in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau zur Ermordung von zehntausenden Menschen benutzte Gas.

Der Igel, nach Brehm „ein drolliger Gesell“, erscheint im Vergleich zum Fuchs als Sympathieträger. In dem bekannten Gedicht von Wilhelm Busch ist er klug genug, um sich gegen den Fuchs durchzusetzen und die Stachelrüstung nicht abzulegen.
Und also bald macht er sich rund,
zeigt seinen dichten Stachelbund
und trotzt getrost der ganzen Welt,
bewaffnet, doch als Friedensheld.
Ich beobachte amüsiert, dass die Schlusszeilen des Gedichts gegenwärtig zur Rechtfertigung der Atomwaffenaufrüstung des Iran auf ganz ähnliche Weise dienen wie in den Fünfzigerjahren zur Einrichtung der Bundeswehr in Westdeutschland. Damals war Mecki, der Igel, das Maskottchen der in jedem Haushalt vorhandenen Zeitschrift „Hör zu“, fast eine Art bürgerliche Leitgestalt. Friedlich, ein wenig spiessig, aber auch selbstbewusst, selbstzufrieden und ein wenig selbstbezogen. In der Schule sahen wir einen Dokumentarfilm vom Kampf des Igels gegen eine Kreuzotter. Der Igel zuckte blitzartig mit der Stirnhaut, so dass sich die Stacheln genau in dem Augenblick aufrichteten, in dem die Otter zustiess. Immer wieder versuchte es die Schlange, und immer wieder holte sie sich eine blutige Nase, bis sie so geschwächt war, dass sie der Igel hinter dem Kopf mit seinen Zähnen packte und ihr den Hals zerbiss. Ein Friedensheld!
Das eine Grosse, das der Igel weiss, ist wohl die Strategie des Sich-Einigelns. Leider bietet diese keinen Schutz davor, auf den Strassen von Autoreifen überrollt zu werden. „Jährlich fallen etwa eine halbe Million Igel dem Strassenverkehr zum Opfer“ berichtet die aktuelle Webseite der Deutschen Wildtier Stiftung. Wir sind es, die diese kleinen Tiere einer sehr alten Art (Igel lebten schon vor den Dinosauriern und lange vor den Hominiden) dem Gott des Strassenverkehrs opfern. Jedenfalls haben wir die Welt so eingerichtet, dass sie als Maschine des Artensterbens auch dann funktioniert, wenn unsererseits gar keine ausdrückliche Tötungsabsicht besteht.
Ein kühner Schritt, mit dem Archilochos die Kompetenz, sich einzuigeln, als „eine grosse Sache“ herausgestellt hat. Ein Schritt, der nur gangbar wird im Kontrast zu dem vielgewandten Fuchs, so dass die Figur des gegen die Vielheit bestehenden Einen als erklärende Formel erscheint. Und dann der vielleicht noch kühnere Schritt, mit dem Berlin diese Formel hernimmt als Lampe, um ein wenig Licht in die Abgründe des Lebens und Denkens der grossen Schriftsteller zu bringen. Wie weit wir da gekommen sind! Die Tiere verblassen in der Ferne, während ihre Namen komplexe Wege unserer eigenen Existenzen bezeichnen. Und doch, liebe Leserin, lieber Leser, ist es einer Person mit entsprechend ausgebildetem Hörsinn möglich, eine gewissermassen auf homöopathische Masseinheiten verdünnte Verbindung zu denken und das sehr ferne Echo eines Grusses über Spezies und Äonen hin zu vernehmen.