Vergessen II

„With no reprise -The sun will rise -The long day is over“ – Melodie und Text des Songs (Jesse Harris) sind eingängig, fast simpel. Auf Norah Jones‘ Album „Come away with me“ (Blue Note Records, 2002) müssen den Song Millionen Menschen gehört und womöglich die Worte mitgesungen haben. „Ohne sich zu wiederholen wird die Sonne aufgehen“ – anfangs paradox, klingt es beim mehrfachen Anhören zunehmend stimmig und richtig – ist es nicht so, dass unser Stern tatsächlich jeden Tag ein Stückchen weiter zu einer neuen Aufgangsstelle am Horizont rückt? Und die Musik trägt das Ihre dazu bei, um ins Ende des langen Tages den Keim eines neuen zu legen, aber dabei gleichzeitig die Aussicht auf die Möglichkeit eines endgültigen Endes offen zu halten.

Ich sitze am Kaminfeuer, höre Norah Jones und lese in Lewis Hydes Buch über das Vergessen. (Lewis Hyde: A Primer for Forgetting. Getting past the past. Edinburgh: Canongate 2019. Dt. „Eine Fibel des Vergessens“ – Eine deutsche Übersetzung ist allerdings nicht in Sicht.) Hyde schöpft aus vielen verschiedenen Quellen – Geschichten und Theorien, Strategien, Therapien, Gedichten, Aphorismen. Und er diskutiert eine Auswahl von Fallstudien – antike Tragödien, Bürgerkriege, rassistische und nationalistische Verbrechen, und einen Vergleich der Vergessenheitstheorien des Hl. Augustinus mit Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Ähnlich weit hatte er sein Netz auch im Buch „Die Gabe“ (2008) ausgeworfen, das mir vor Jahren die Augen über die Lage der Kunst in der kommerziellen Welt geöffnet hat. Man liest diese Studien so, wie ein Flaneur durch Walter Benjamins Pariser Passagen spaziert, – aufmerksam, amüsiert, manchmal hingerissen und nie gelangweilt, bis die Verhältnisse derart ausdauernd geschildert und hin und her gewendet sind, dass ihrer gegenwärtigen Wirklichkeit nicht mehr auszuweichen ist. Am Anfang seiner neuen Sammlung tiefschürfender Texte steht eine Liste von Aphorismen zum Thema „Vergessen“ (die erste von vieren). Zwei Sprüche fallen mir ins Auge und bleiben im Gedächtnis: „Im Vergessen liegt die Liquidation der Zeit“ und „Die Furien blähen die Gegenwart mit der unverdauten Vergangenheit auf“.

Beim ersten Spruch, wonach Zeit durch Vergessen liquidiert wird – verflüssigt, aber auch seit dem Stalinistische Wortgebrauch „umgebracht, aus der Welt geschafft“, kommen mir die Flüsse vor Augen, an deren Ufern ich gelebt habe, und ich beginne, die Gleichartigkeit des abstrakten Konzepts Zeit mit dem sinnlich erfahrbaren Ding Wasser zu begreifen.

Der zweite Spruch erinnert mich als Kind deutscher Eltern an den Holocaust. Ich weiss, dass ein Schuldvorwurf mich als Spätgeborenen nicht treffen kann, bin aber keineswegs sicher, dass dies auch den Furien bekannt ist. Bisweilen meine ich, ihr Zischen und Weinen aus dem Wind herauszuhören, manchmal spüre ich ihre Anwesenheit als interessiertes Lauschen, etwa sobald im Gespräch das Argument auftaucht, dass keine moderne Gesellschaft vor dem Umkippen in antizivilisatorische Verhaltensmuster gefeit ist.

„Furien“, bei den Griechen „Erinnyen“ Aus: Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Leipzig 1838, gemeinfrei

„Furien“ nannten die Römer die Panik auslösenden Wesen, die vorher in Griechenland „Errinyen“ hiessen. Sie entstammen jenen uralten Zeiten, bevor noch Götter die Herrschaft übernommen hatten, – Zeiten, in denen das gesellschaftliche Leben an Regeln der Blutrache gebunden war. Lewis Hyde erzählt, wie es der Göttin Athene gelang, die Erinnyen in die Ordnung des Areopag einzubinden, mit dem Versprechen, ihnen anstelle des Bluts der Täter die jeweils ersten Früchte des Landes zur Nahrung zu reservieren. Auf diese Weise mutierten sie zu einer Art Fruchtbarkeitsgöttinen, in deren neuen Namen „Eumeniden“ – die Wohlgesinnten – für das Ironie-geschulte Ohr der Griechen noch ein Echo ihrer alten Rachsucht vernehmbar blieb. Falls sie durch diesen Schachzug athenischer Staatskunst ihren Biss verloren, war ihr Rückzug doch nur von vorübergehender Dauer. Und gleichzeitig erscheint ihre Herrschaft inzwischen irgendwie geschwächt, abgewandt von den grossen Kriegen und Völkermorden, und stattdessen deren Kollateralbereichen zugewandt. Vielleicht ist das einfach die Folge des anscheinend andauernd zunehmenden schieren Volumens von Massakern. Womöglich erschwert die damit zusammen hängende Anonymität der Massenmorde ihren aufs Persönliche gerichteten Zugriff. Die Dramen von Aischylos und Sophokles erzählen ja familiengeschichtliche Katastrophen, in denen genau diejenigen Stellen der handelnden Personen entblösst werden, an denen die Erinnyen zubeissen. Orests Mutter bringt seinen Vater um, weil der die Tochter den Göttern zum Opfer geschlachtet hat, und Orest bringt daraufhin seine Mutter um – ein Familiendrama, wie dazu angelegt, die Erinnyen hervorzurufen. In diesem Fall sehen sich selbst die Götter veranlasst, Position zu beziehen. Aus unserer womöglich durch Bert Brechts Theater geprägte Sicht erscheint das Drama nach Art eines Lehrstücks ganz so aufgeladen, als ob der Fortgang dessen, was wir Zivilisation nennen, von der Lösung des persönlichen Problems des Orest abhinge: Wie können seine Alpträume zum Verschwinden gebracht werden? Bei allem Schrecken und Mitgefühl, das diese Tragödien auch bei uns Heutigen auslösen, wirkt die tragische Dimension auf uns wohl auch eher als eine Art Modell im stark verkleinerten Massstab. Bei dem sich mir jedenfalls aufdrängenden Vergleich mit der modernen Todesfabrik Birkenau, die den Herstellungsprozess des Produkts Massenmord optimierte, geraten die alten Tragödien auf ein Nebengeleise. An welcher Stelle der entpersönlichten Maschinerie sollten die Erinnyen zubeissen, wo hätten sie sich einnisten können?

An den gepflegten Wegen vor den Grabhügeln in Bergen-Belsen sind Täfelchen angebracht, auf denen geschätzte Zahlen der dort zusammengekarrten Leichname stehen: 3000, 5000, 10 000. „Man müsste die Erde über den Toten wegschieben“, sagt Freund Emanuel, „und Glasplatten einsetzen, so dass alle die Gebeine sehen“. Das würde die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens vor Augen führen. Aber Anne Franks Gebeine würden wir nicht herausfinden. Ob Erinnyen ähnlich wie Menschen das Gegenüber einer Person brauchen, – sie, um Rache zu üben, wir, uns zu verneigen? Sechs Millionen ermordete Personen: Die Erinnerung, so scheint es, ist durch die Anonymität des Mordes gleich mit liquidiert worden. Was da angelaufen ist, läuft in vielerlei Varianten weiter. Menschen erweisen sich bei derlei Projekten als überraschend gelehrige Schüler. Man lernt, einen Hebel umzulegen und dabei nonchalant in Kauf zu nehmen, dass die durch den Handgriff ausgelöste Detonation eine Stadt auslöschen und einige Zehntausend Menschen umbringen wird: Weit weg, nix Persönliches.

Lewis Hyde hat im Abschnitt mit dem lapidaren Titel „Nation“ Beispiele zusammen getragen, in denen er gewissermassen dem Wirken der Erinnyen im Kollateralbereich des grossen Mordens nachgeht. Dort, wo Namen und Gesichter der Opfer und Täter sichtbar werden, macht es Sinn, Schuld und Sühne zu ermitteln, und Rache oder Vergebung zu üben, um jenes Vergessen zu begründen, das einen neuen Tag ermöglicht. Hyde sucht dabei nach Belegen für seine Vermutung (er selbst nennt sie „ein Gedankenexperiment“), dass Vergessen der Fortführung des Lebens besser zu helfen vermag als Erinnerung.

Um den Faden weiter zu spinnen, den ich aufgegriffen habe, weil mir die Holocaust-Erinnerung einst als unabdingbares Gebot erschienen ist, greife ich als erstes die damit korrespondierenden Passagen seines Buches auf. Er greift Elie Wiesels Darstellung des Holocaust als letztendlich unbegreifliches Ereignis auf. Dem Verständnis entzogen, aus der Zeit gefallen und dem Zugang der kognitiven Instrumente verschlossen, kommentiert Hyde, sei dies grosse Übel bei Wiesel in eine transzendente Sphäre gehoben. Während das Böse an sich als ein „letztendliches Geheimnis“ (philosophisch als metaphysische, theologisch als transzendente Grösse) aufgefasst werden könne, treffe dies auf den Holocaust nicht zu: Der müsse als eine Inkarnation des Bösen aufgefasst werden. Um unerwartete Erscheinungsformen zu erkennen, die als neue Inkarnationen in ganz anderen Varianten begegnen, empfiehlt es sich, den Holocaust so zu studieren, dass die spezifische Erscheinungsform ermittelt und im Vergleich mit anderen Massenmorden bestimmt werden kann. Der Vergleich, den Wiesel als unangemessen zurückgewiesen hat, ist womöglich die stärkste Kraft, die uns als vernünftige, das Instrument der Wissenschaft nutzende Wesen zur Verfügung steht.

Der Prozess der Erkenntnis fördert vielleicht keine zeitunabhängig geltenden Wahrheiten zutage- etwas, das der Form nach Wiesels Unvergleichbarkeits-Maxime des Holocaust Vergleichbares -, sondern ist selbst zeitabhängig und wandlungsfähig. „Erinnern, damit Auschwitz nicht noch einmal sei“, war das Gebot einer historischen Phase, in der politische Kräfte das Geschehene durch Vergleiche zu verwässern und durch Nicht-Gedenken, Nicht-einmal-Erwähnen aus der Welt zu schaffen suchten. Inzwischen ist die Erinnerungs- und Gedächtnis-Maxime zu einem eigenen wirtschaftlich mit öffentlichen Geldern ausgestatteten Betrieb geworden, mit eigenen Karrierechancen. Dort hat sich ein spezifischer Diskurs entwickelt, der, so weit ist sehe, vom guten Sinn des Gedächtnis-Unternehmens überzeugt ist. So weit diese Überzeugung unbefragt bleibt, besteht die Gefahr, dass sie im Fluss der Zeit nicht fortzubestehen vermag.

Hyde führt Ruth Klüger an, die in einem Aufsatz mit dem Titel „Forgiving and Remembering“ deutlich ablehnende Worte findet für die Zumutung eines Erinnerungs-Transfers. Unter den zahlreichen ins Deutsche übersetzten oder auf Deutsch verfassten Texten von Ruth Klüger habe ich diesen Aufsatz nicht gefunden. Deshalb übersetze ich hier einige Sätze, die mir angesichts der vorherrschenden Erinnerungskultur einigermassen revolutionär (und notwendig) erscheinen:

„Ich denke, Vergebung ist eng mit dem Fluss der Zeit verbunden. Wir sprechen von den Tugenden des Gedächtnisses, aber Vergesslichkeit hat ihre eigene Tugend. … Es besteht ein Gedächtniskult, der unseren Kindern bestimmte Aspekte der Geschichte und deren vorgebliche Lehren aufzuzwingen sucht. Dessen bevorzugtes Mantra ‚Lasst uns erinnern, damit dasselbe nicht wieder geschieht‘ überzeugt nicht. Ein erinnertes Massaker kann zur Abschreckung dienen, aber es kann auch als Vorbild für das nächste Massaker dienen. Wir können unseren Enkelkindern den Inhalt unseres Verstands nicht auferlegen. Sie werden erinnern, was sie brauchen, und den Rest vergessen.“ (Ruth Kluger: Forgiving and Remembering. In: „Publications of the Modern Language Association of America“ 117, no 2, March 2002; auch: Hyde, p. 205)

Man liest es als warnende Fortführung von Klügers Argumentation, dass Hyde sich anschliessend in eine Schilderung des Falles „Kosovo und gewähltes Trauma“ vertieft. Dabei geht es um das Datum 28. Juni 1389: den Tag der Schlacht auf dem Amselfeld, bei der das Heer der orthodox-christlichen Serben vom Heer des Ottomanischen Imperiums vernichtend geschlagen wurde und die serbische Vormachtstellung auf dem Balkan verloren ging. Leichnam und Kopf des serbischen Führers Lazar wurden im Kloster Fruska Gora nordwestlich Belgrad beigesetzt, die verlorene Schlacht selbst aber verwandelte sich zu einem „auserwählten Trauma“ (chosen trauma): „einer identitätsbildenden Katastrophe der Vorfahren, in deren Erinnerung sich tatsächliche Geschichte mit leidenschaftlichem Gefühl und hoffnungsträchtigen Opferphantasien mischen“ (p. 207). Kein Zufall, dass das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand, das heute als Auslöser des Ersten Weltkriegs gilt, an einem 28. Juni verübt wurde (dem 525. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld). Und kein Zufall, dass 1992 im Völkergemisch von Bosnien-Herzegowina serbische Bewaffnete ihre muslimischen Nachbarn zu massakrieren begannen: Der serbische Anführer Milosevic hatte in verschiedenen Ansprachen Lazars irdische Niederlage als einen himmlischen (ewigen) Sieg gedeutet. Hyde zitiert daraus den kaum glaublichen Satz: „Das Heldentum vom Kosovo hat unsere Kreativität über sechs Jahrhunderte inspiriert, hat unseren Stolz genährt und erlaubt uns nicht zu vergessen, dass wir einmal eine grosse, tapfere und stolze Armee waren, eine der wenigen, die auch dann ungeschlagen bleiben, wenn sie verlieren.“ (zitiert auf Englisch von Hyde S. 209)

Hyde erinnert daran, dass während des von Serben verübten Genozids in den Neunzigerjahren Hunderttausende Muslime und Kroaten aus ihren Dörfern vertrieben wurden. Dass serbische Kämpfer Tausende von Frauen vergewaltigten. Dass in der Stadt Srebrenica mehr als achttausend muslimische Männer und Jungen ermordet wurden. Er gibt zu bedenken, wie Trauer gemeinhin im Lauf der Zeit das Verlorene in Erinnertes verwandelt und wie nach 600 Jahren auch die meisten Erinnerungen verblasst sein werden. Nicht so, wo die Wunde eines Traumas durch endlose Trauer offen gehalten wird: Da ist das Trauma dem Fluss der Zeit enthoben. Es dient dazu, die eigene Identität durch endlose Trauer zu bewahren. Wie ein Knoten im Blutstrom, ein Stau im Fluss. Wahrscheinlich geht es im Kern unseres Problems darum, das Trauma von Leid und Schuld aufzulösen, es dem Strom der Zeit auszusetzen und der traumatischen Erinnerung zu gestatten, im Wasser der Flüsse aufgelöst zu werden.

Rachel Rosenbergs Warnungen davor, mich auf das Holocaust-Erinnerungsprojekt einzulassen (geschildert in „Vergessen“), passen zu der Argumentationsspur, die anhand von Hydes Befunden sichtbar wird. Ich nehme allerdings an, dass Rachel nicht aufgrund der Argumente von Akademikern oder in anbetracht historischer „Chosen Trauma“-Beispiele zu ihrer Vergessens-Empfehlung kam. Da war ihr offenbar Trauma-geschädigter Sohn, und die eigene Erfahrung, dass die dauerhafte Konfrontation mit der Erinnerung eine Sackgasse ist. Du kommst nicht weiter, du kommst nicht mehr heraus. Ich stelle mir vor, dass sie als gute Mutter alles, was dem Fortgang des Lebens dient, erkannte. Sie hat wohl ausserdem für sich einen Weg gefunden, um dem Vergessen zu gestatten, sich zu entfalten, ähnlich wie jemand, der über Jahre hin von Schlaflosigkeit geplagt wird, das Geschenk eines langen und tiefen Schlafes haben kann, wenn er den tiefsten Schichten seines Bewusstseins gestattet, was zwanghaft auftaucht, loszulassen.

Hyde entwickelt die Bedingungen der Möglichkeit des Vergessens anhand von Beispielen. Bestimmte Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit als Voraussetzung eines friedlichen Fortgangs des sozialen Lebens das heilsame Vergessen einkehren kann. Er legt sogar eine Art To-Do-Liste vor, deren einzelne Posten dafür erfüllt sein müssen: „Wahrheit“, „Gerechtigkeit“, „Bitte um Vergebung“, „Vergebung“, „Reparationen“, „Begräbnis“.

Seine Beispiele entstammen weit voneinander entfernten Kontexten: zwei amerikanische Fälle, kollateral verbunden mit den grossen Themen der Eroberung des Westens und des rassistischen Nachhalls („Jim Crow“) der Sklaverei in den Südstaaten, dann die Amnestie-Politik Spaniens nach Franco und die Arbeit der Truth Commission zur Bewältigung der Verbrechen während der Apartheid-Zeit in Südafrika.

Hyde beschreibt Folter und Ermordung von Henry Dee und Charles Moore, zwei schwarzen Jungen durch die Ku Klux Clan-Angehörigen Charles Marcus Edwards und James Ford Seale im Jahr 1964 derart detailliert, dass mir eine wie auch verkürzte Wiedergabe unerträglich ist. Jahrzehnte später kommt es nach dem Fund der Leichen der beiden Jungen im Mississippi zu einer Gerichtsverhandlung. Edwards bringt – im Tausch gegen ihm zugestandene Immunität – als Zeuge der Anklage alles ans Licht, Seale wird im Jahr 2007 verurteilt und stirbt vier Jahre später im Gefängnis. Während der Gerichtsverhandlung bittet Edwards darum, die Familie von Charles Moore, eines der beiden Opfer, ansprechen zu dürfen, und fleht dann um ihre Vergebung. Thomas Moore, der grosse Bruder, Scharfschütze in der Armee, von den Vorstellungen des Leidens seines kleinen Bruders verfolgt, verhandelt mit den anderen Familienmitgliedern, und spricht Edwards schliesslich seine Vergebung aus. Bei einigen der Gespräche zwischen Moore und Edwards in den folgenden Jahren ist Hyde selbst dabei, er zitiert und analysiert Tonaufzeichnungen. Moore versichert ihm, dass er selber Frieden gefunden habe und nicht mehr von Alpträumen gequält sei, und dass auch sein toter Bruder in Frieden ruhe. Hyde kann nicht alle dieser Aussagen nachvollziehen. (Beim Lesen spüre ich sein fortwährendes Misstrauen.) Aber am Ende gesteht er Thomas Moore zu, als dazu einzig Berechtigter seine Vergebung aussprechen zu dürfen. Typisch an dieser Geschichte scheint mir, dass sie im rassistischen Umfeld von Sklaverei und Bürgerkrieg spielt, in der kleinen Zelle einer quasi familiären Situation, in der ausser Tätern und Opfern auch die Erinnyen zu Hause sind. Was sie in diesem Fall vertreibt (oder zu vertreiben scheint), ist die Übung eines christlich geprägten Vergebungs-Musters. Die Wahrheit ist ans Licht gekommen, der Gerechtigkeit wurde in einem zweiten Anlauf Genüge getan, unter den Bedingungen eines Zeugen der Anklage, der selbst ein Haupt-Täter war, dem aber Immunität gewährt wurde. Man scheut sich, den Verdacht zu äussern, dass Edwards, der inzwischen einer eigenen Kirchengemeinde vorsteht, die Bitte um Vergebung womöglich als Anwendung seines kirchlichen Repertoires einfiel. Ich empfinde beim Lesen ein Gschmäckle von Scheinheiligkeit, aber Thomas Moores Vergeben hat zumindest ihm selber den Frieden des Vergessens gebracht.

Das Massaker an siebenhundert unbewaffneten Männern, Frauen und Kindern der Cheyenne und Arapaho, das die Kavallerie unter Colonel Chivington am 29. November 1864 am Sand Creek in Colorado anrichtete, wird seitens der Nachkommen der Täter als „eine der bedauerlichen Tragödien bei der Eroberung des Westens“ bezeichnet. Der Satz steht auf der Plakette des Obelisken an einer Stelle, die der Cheyenne Schamane Cometsevah in den Siebzigerjahren als Schlachtort identifizierte: Er hörte dort das Weinen der Kinder und die Hilferufe der Frauen. Hyde resümiert die Diskussion, die in der Öffentlichkeit seit den 1860er Jahren bis zur Gegenwart läuft. „Wenn meine Notizen Momente eines Gedankenexperiments festhalten, bei denen Vergessen weiter führt als Erinnerung, dann ist es in diesem Fall gescheitert“ (p. 180) Dass Landrechte, die von der Regierung als Reparation vertraglich zugesichert wurden, bis heute nicht gewährt worden sind, verletzt eine der von Hyde identifizierten Bedingungen („Reparation“), aber noch fataler ist der Anspruch der Eroberer, die Geschichtsschreibung – wie sie auf Plaketten, Monumenten und in Lehrbüchern erscheint – unter Ausschluss der Cheyenne zu bestimmen. Dies Versagen korrespondiert mit der Bedingung „Wahrheit“. Aber auch der Punkt „Begräbnis“ bleibt hier unerfüllt, weil Skalps und Hoden der Indianer offenbar immer noch in Museen und Privatsammlungen aufbewahrt werden.

An dieser Stelle unterbreche ich die Webarbeit an diesem Text. Als nächstes wäre zu untersuchen, ob Hydes To-Do-Liste an den von ihm gewählten Beispielen Franco-Spaniens und des Apartheid-Regimes Südafrika weiter hilft. Ich werde mir ausserdem den Dreissigjährigen Krieg und die Bestimmungen des „Westfälischen Friedens“ (1648) vornehmen: „Vergessen III“!

Vergessen

Gustave Doré: Illustration zu Dantes „Göttliche Komödie“, Purgatorio , Canto XXXI (Dante, überwältigt von Reue für seine Sünden, wird von Matilda im Fluss Lethe untergetaucht, dessen Wasser die Erinnerung seiner Sünden auslöscht) 1885

Irgendwann in der Mitte der Fünfzigerjahre – der Lehrstoff des Gymnasiums konnte meine Wissbegierde nicht stillen – fiel mir in der Hersfelder Stadtbücherei ein Exemplar von Eugen Kogons „Der SS-Staat“ in die Hände. Text und Fotos waren ein einziger Schock, und schockierend fand ich anfangs auch Kogons nüchtern-klare Berichterstattung: Wie konnte jemand dies ungeheuerliche Verbrechen, diese Mischung aus Böswilligkeit, Sadismus und Menschenschlachthaus schildern, ohne angesichts des totalen Abbruchs von allem, was Zivilisation heisst, zu verzweifeln? Erst später begriff ich, dass Versuche, die Geschichte zu festzuhalten, auf der Präzision der Beschreibung aufbauen müssen. Doch hätte man nicht sogleich auch alles in Gang setzen müssen, damit so etwas nie wieder passieren konnte? Zwischen der Ungeheuerlichkeit des Geschehenen und den Themen, die damals öffentlich zur Sprache gebracht wurden, lag ein Niemandsland, das keiner betreten wollte. Weder im Schulunterricht noch zu Hause in den Familien hörten wir etwas über den SS-Staat, und obwohl wir Schüler glaubten, uns über alles und jedes miteinander auszutauschen, wichen auch wir in Wirklichkeit dem Thema ebenso aus wie unsere Lehrer, wie unsere Eltern, als ob wir unwillkürlich in dem über der Generation der Täter und Mitläufer hängenden Schatten verstummten.

Mir ist das Thema seit jenen Jahren nachgegangen, ich verfolge seine Verwandlungen im öffentlichen Diskurs und denke ab und zu über die Rolle des Erinnerns und – zunehmend in den letzten Jahren – die des Vergessens nach.

Ende der Siebzigerjahre tauchte die Miniserie „Holocaust“ auf den Fernsehbildschirmen Westdeutschlands auf. Diese Familiengeschichte (Meryll Streep als Mutter Weiss) schaffte es, das Geschehene als Gesprächsgegenstand in die privaten Bereiche und in die weitere Öffentlichkeit erstmals einzuführen, und sie verlieh ihm zugleich den altgriechischen, auf Englisch ausgesprochenen Namen, der seither die Sache bezeichnet. Mitte der Achtzigerjahre kam dann, wiederum über das Fernsehen, Claude Lanzmanns Filmserie „Shoah“ wie zur Ergänzung hinzu. Die unvergesslichen, erschütternden Interviews mit Überlebenden und Tätern führten die Aktualität des Geschehens vor Augen, das die Überlebenden und Nachfahren der Opfer „Shoah“ nennen – „Untergang“ – und auf sich selbst beziehen, während wir Angehörige aus dem Bannkreis der Täter, wo wir nicht die allgemein verbreitete Bezeichnung „Holocaust“ gebrauchen – (wörtlich „Brandopfer, bei dem das Opfertier ganz und gar verbrannt wird“) von „nationalsozialistischem Völkermord“ (wikipedia) sprechen oder ähnlich objektivierte Sprachvorlagen gebrauchen, mit denen wir die Sache scheinbar von uns selbst trennen. Inzwischen sind – von „Sophies Entscheidung“ bis „Das Leben ist schön“ – Dutzende von Holocaust-Filmen gedreht worden, die meisten davon enorm erfolgreich, und man hat Hunderte von Gedenkstätten und Holocaust-Museen eingerichtet (deren besondere Anziehungskraft unter dem Stichwort „Dark Tourism“ diskutiert wird). Alljährlich erscheint eine Flut von Büchern zum Thema. In der Masse von Büchern, die ich im Lauf der Zeit gesammelt habe, ist eine eigene Abteilung der Shoah gewidmet. Ich vermute, dass ähnliche Ablagerungen der fortlaufenden Produktion (zu der ich selbst beigetragen habe) nicht nur in meiner Bibliothek abzulesen sind. Anscheinend gibt es – wirtschaftlich betrachtet – so etwas wie eine Holocaust-Verwertungs-Industrie. Die dort Beschäftigten zitieren gelegentlich Philip Roths makabren Spruch: „There’s no business like Shoah business“. Die zynische Attitüde verbirgt wohl vor allem die Verletzlichkeit derer, die ihre eigene Traumatisierung zu Markte tragen.

Manchmal frage ich mich angesichts der Tagesnachrichten, weshalb wir dies „Nie wieder!“ unseres Projekts offensichtlich verfehlt haben. Ich grüble dem Verdacht nach, ob es vielleicht paradoxer Weise damit zusammenhängt, dass wir die Notwendigkeit des Erinnerns über alles andere stellen, und dabei die Notwendigkeit des Vergessens übersehen. Zur Illustration und zum Auftakt der Argumentation scheint mir folgende Szene aus meinem persönlichen Erinnerungsvorrat geeignet:

An einem sonnigen Sonntagmorgen Anfang April 1993 gehe ich vom Haus meines Freundes Roger in Omaha, Nebraska, die Strasse hinunter zum Haus von Carl und Rachel Rosenberg. Carl will mit mir über seine Zeit in deutschen Lagern sprechen. Die Rosenbergs waren etwa gleichzeitig in Auschwitz gewesen und hatten sich später im Konzentrationslager Dachau gesehen und nach Kriegsende in einem DP-Lager („Displaced Persons“) in Landsberg am Lech geheiratet. Ich habe ein Foto der beiden aus den Neunzigerjahren, da müssen sie Mitte siebzig sein – Carl, mit Brille und im dunklen Anzug mit Krawatte und Einstecktuch – seiner Haltung ist zu entnehmen , dass er diese Art Kleidung als Herrenschneider zu tragen gewohnt ist -, und Rachel, eine, wie man sagt, gepflegte Erscheinung im roten Blazer über schwarzem T-Shirt, volles dunkles Haar über grossen Augen, Makeup. Vor dem Gemälde eines betenden Rabbiners mit Tallit und Tefillin blicken sie distanziert, aber freundlich in die Kamera. Mir ist, als erwarteten sie, dass ich sie anspreche.

Schon während der Begrüssung an der Haustür verabschiedet sich Rachel, sie geht zu einer Freundin und sagt, dass sie Gespräche über die Lager-Vergangenheit nicht erträgt. Carl sagt, zwei Mal habe sie seine Aufzeichnungen verbrannt. Sein Buch mit dem Titel „As God is my Witness“ ist trotzdem 1990 erschienen. Am Ende des Tages wird er mir ein Exemplar überreichen. Jetzt bittet er mich zum Küchentisch, bietet mir einen Küchenstuhl, setzt sich mir gegenüber und beginnt zu sprechen.

Es gibt in Coleridges Gedicht über die Rede des alten Seemanns („The Rime of the Ancient Mariner“ 1798) eine Passage zum zwanghaften Rededrang, die sich mit meiner Erinnerung an Carls vier Stunden langen Vortrag mischt: „Since then, at an uncertain hour, That agony returns: And till my ghastly tale is told, This heart within me burns.“ („Und oft noch kehrt seit jener Zeit Zurück die Angst, der Schmerz; Eh‘ ich das Gräßliche gesagt, Brennt in mir dieses Herz.“ Übers. zeno.org gemeinfrei) Und doch ist da ein tiefer Unterschied, den die Ähnlichkeit des Bildes der zum Reden Getriebenen verdeckt. Der alte Seemann ist getrieben, von seiner eigenen Schuld zu sprechen, von der Strafe, die ihn traf und von seiner glücklichen Rettung durch barmherzige Geister. Carl ist nicht von Schuld belastet, er schildert seine Kriegserfahrungen als Soldat der polnischen Armee, den Transport ins Warschauer Ghetto, seine Flucht, Auschwitz, den feigen Charakter der Deutschen, die er beobachtet, ihre Mordlust, ihre Nonchalance beim Genickschuss, und kommt dann in einem langen Exkurs, vielleicht weil ich ja auch ein Deutscher bin, auf Otto Busse zu sprechen, Oberbauführer bei der Luftwaffe in Wolanow, der den Juden hilft wo er kann – „He was such a beautiful mensch“ – bis er als „Judenfreund“ zur Bewährung an die Ostfront abkommandiert wird. Carl überlebt die Lager, er ist jung und körperlich kräftig, aber das vage Schuldgefühl, am Leben geblieben zu sein, während alle anderen sterben mussten, begleitet ihn immer noch. Anders als Coleridges alter Seemann, klagt Carl gegen das Unrecht, das seinem Volk und ihm angetan wurde, vor der imaginären Justiz einer allumfassenden Öffentlichkeit – eine Art Klage wie vor dem Gericht der Menschheit. Vielleicht hängt das Dringliche seiner Ansprache mit dem Bewusstsein davon zusammen, dass die Rechnung am Ende offen bleiben muss: Wie soll Wiedergutmachung überhaupt vorstellbar werden, und was würde Vergeltung aus der Menschlichkeit der Vergeltenden machen?

Carl spricht auf derart intensive Weise, dass ich ganz in seinen Bann geschlagen bin. Er unterbricht ab und zu, um ein Glas abgekochtes Wasser vom Herd zu holen, oder sich die Tränen mit einer Kleenex-Serviette aus den Augen zu wischen. Er legt seine Hand auf meinen Hemdsärmel, und es ist, als ob er von meinen Vorstellungen Besitz ergriffe. Die Stunden vergehen. Aber als Rachel erscheint, bricht er seine Rede ab. Ich bin erleichtert, und als Rachel ihre Angst vor einer Wiederkehr der Nazis äussert, versichere ich ihr, dass die Deutschen meiner Generation eine solche Wiederkehr verhindern werden. Aber darauf, weshalb dies alles ihrem Volk geschehen ist, und weshalb keiner zu Hilfe kam, finde ich keine Antwort. In ihrer Bitterkeit stellt sie dann eine Frage, die ich anfangs nicht verstehe: „Wir Überlebenden sind stark“, sagt sie: „Aber warum müssen unsere Kinder den Preis für unsere Stärke zahlen?“ Sie führt mich ins Wohnzimmer, ich bewundere das Wandbild des im Gebetsschal und mit Gebetsriemen betenden Rabbi. „Das Bild hat mir mein Sohn aus Jerusalem mitgebracht“, sagt Rachel. Und dann schluchzt sie: „Mein Sohn ist krank, verrückt. Er ist ein einer Anstalt.“

Da beginne ich selbst zu weinen, und so weinen wir ein paar Minuten lang zu Dritt. Rachel holt eine Tupperware-Dose und bietet Carl und mir selbst gebackene Plätzchen an. Es ist ein Sandgebäck, ich kenne den Geschmack, habe ihn aus meiner Kindheit noch auf der Zunge. Es muss das gleiche Rezept sein, nach dem auch meine Mutter ihre Plätzchen für meine Schwester und mich gebacken hat.

Im November jenes Jahres 1993 rufe ich die Rosenbergs aus Hamburg an, Rachel nimmt ab, ich sage, dass ich an sie gedacht habe, als ich vorhin den Film „Schindlers Liste“ im Kino sah. „Aber solche FIlme sollst du nicht anschauen“, sagt sie sanft mahnend. „Du machst dich nur unglücklich. Mir ist es neulich in Kalifornien so ergangen.“ Dann erzählt sie von einem Verwandtenbesuch an der Westküste. Dort sei „auch so ein Museum“, in dem sogar Originale Viehtransportwagen ausgestellt seien, genau wie die damals beim Transport nach Auschwitz. Sie habe in der Nacht nach dem Museums-Besuch nicht schlafen können: „Was hast du davon, dass du dich erinnerst? – Alpträume!“

In jener Zeit der Achtziger- und Neunzigerjahre nahm ich das Sich-Erinnern als heilige Pflicht wahr. Bei der Kontroverse zwischen Carl und Rachel war ich ganz selbstverständlich auf Carls Seite, als ob meine Erinnerungs-Lern-Mühen sich von selbst mit seiner Erinnerungs-Besessenheit irgendwie zu einem Ganzen zusammenfügen würden. Hätte ich Rachels Position das gleiche Gewicht zugestanden, wäre mir klar geworden, dass die Erinnerung der Opfer von anderer Art ist als die der Täter und Zuschauer. Vielleicht war Rachels Sohn durch den Erinnerungszwang seines Vaters in einen tiefen Kummer gefallen. Ich habe nicht nachgefragt. Aber Ido Abram von der Universität Amsterdam hat mir erzählt, dass sich Kinder von Holocaust-Überlebenden in Amerika öfters darüber beklagen, dass ihnen die stets gegenwärtige Erinnerung ihrer Eltern gewissermassen die Luft zum unbeschwerten Atmen nimmt. Ich hätte damals jedenfalls sehen können, dass Erinnerung für die Überlebenden die Vergegenwärtigung des Traumas ihres Lebens bedeutet. Für uns Deutsche rief die Erinnerung anfangs Gesten authentischer Abbitte hervor. Willy Brandts Kniefall am Warschauer Ghetto war eine solche spontane Geste, die das Unsagbare aussprach. Wenig später gab die Erinnerung uns Deutschen die Grundlage unserer Versicherung, alles zu tun, dass Auschwitz nicht noch einmal sei. Im Vergleich sind wir billig davon gekommen.

Bundeskanzler Willy Brandt am 7. Dezember 1970 vor dem Denkmal zur Erinnerung an den Aufstand im Warschauer Ghetto.

Richard von Weizsäcker, der Bundespräsident, hatte am 8. Mai 1985 eine viel zitierte Rede gehalten, in der er den Unterschied auf den Punkt brachte: Das jüdische Volk erinnert sich und wird sich immer erinnern. Wir suchen als Menschen Versöhnung.

Die Suche nach Versöhnung formulierte ein Ziel, das damals wahrscheinlich die grosse Mehrheit der Deutschen unterschrieben hätte. Heute – an einem Tag im März 2023 – entnehme ich den Zeitungen, dass seit 1950 ein knappes Viertel der Deutschen (23 Prozent) entweder in dies Land eingewandert oder als Kinder von Eingewanderten hier geboren sind. Abgesehen von dem hoffentlich vorherrschenden Willen, mit anderen Völkern in Frieden zu leben: Wofür sollten diese neuen Deutschen Versöhnung suchen? Aber auch wir Kinder von Deutschen, die am Holocaust als Täter, Opfer, Zuschauer beteiligt waren, sind ja jedenfalls juristisch nicht aufgrund von Taten der Elterngeneration zu irgendwelchen Bussen verpflichtet. Weizsäcker hatte dies Problem der im Lauf der Generationen verschwindenden Verantwortung im Sinn, als er 1985 über die Nachwachsenden sagte: Kein fühlender Mensch erwartet von ihnen, ein Büßerhemd zu tragen, nur weil sie Deutsche sind. Aber die Vorfahren haben ihnen eine schwere Erbschaft hinterlassen. Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen.

Heute liegt es nahe, auch diese diplomatischen Formulierungen in Frage zu stellen: Sind wir heutigen Deutschen für die Folgen der Vergangenheit tatsächlich haftbar? Auch wenn ich meinen Gesprächspartnern von der jüdischen Gemeinde in den Achtzigerjahren zuzustimmen geneigt war, dass uns Deutschen eine „besondere Verantwortung“ zufällt, weil wir Deutsche sind, so hat diese sprachliche Wendung dem genaueren Nachdenken doch nie standgehalten.

Die einklagbare Verantwortlichkeit verschwindet mit dem Auftauchen neuer Generationen, und es ist, als ob auch die Gegenwärtigkeit des Holocaust selbst im Bewusstsein der Nachgeborenen verblasst. Ich selber hatte noch den Schock der ersten Stunde erlebt, die Generation der Täter war die meiner Eltern und Lehrer, die Shoah warf noch sichtbar ihren Schatten über das Land. Ich fand auch unter den Studierenden, die der Generation meiner Kinder angehörten, weiterhin die Muster einer persönlichen Beziehung zum Holocaust. Eine der Techniken, die wir einsetzten, um ins Gespräch zu kommen, war das Anfertigen einer grossen (Din A2) Zeichnung, die wir „Identitäts-Landkarte“ nannten, zum Thema „Der Holocaust und ich“. Die jungen Menschen kartierten gewissermassen ihre erste Begegnung mit dem Thema und markierten Stationen, die ihnen bedeutsam waren, als eine Art von persönlichem Itinerär. In der Regel lief der Weg auf die offenen Fragen hinaus, welche die einzelnen am meisten beschäftigten. (Auch der Text, den ich hier vorlege, lässt sich wohl als eine Art rudimentäre „Identitäts-Landkarte“ zum Thema „Der Holocaust und ich“ verstehen.) Die Präsentation der Ergebnisse war stets ein Ereignis. Auch wenn wir uns an Fragen abarbeiteten, die oftmals unbeantwortet bleiben mussten, so bot die Vielfalt der Gesichtspunkte und Einfälle, die zur Sprache gebracht wurden, doch einen Gedanken-Reichtum, der mir diese Erinnerungsarbeit zu einer Art Fest werden liess. Ich habe Zweifel, ob unsere Technik in der heute praktizierten Seminararbeit noch anwendbar ist. Sie setzt ja ein gewisses Mass an Vorwissen und Engagement voraus, mit dem – unter der Generation meiner Enkel – wohl nur noch in Ausnahmefällen gerechnet werden kann, abgesehen von der relativ vagen Aufgabenstellung, die im akademischen Lehrbetrieb kaum noch vorkommt. Entscheidend ist das Verblassen der Dringlichkeit der alten Fragen, die durch neue, ganz andere, aber für die neue Generation eben mindestens ebenso dringliche, ersetzt werden.

Ich tröste mich mit einer Beobachtung des amerikanischen Philosophen John Dewey, der einmal bemerkte, dass wir Probleme nicht lösen. „Wir lösen sie nicht, wir lassen sie hinter uns, und wenden uns neuen Problemen zu, die an ihre Stelle treten.“ Auch wenn es schwierig ist, diese Aussage zu akzeptieren, so lange es sich um Probleme handelt, die uns im Verlauf unseres eigenen Lebens verfolgen, so gewinnen Deweys Worte doch einen nachvollziehbaren Sinn, sobald wir unseren Horizont so weit ausdehnen, dass wir eine Reihe von Generationen überblicken.

Dass sich das jüdische Volk immer erinnern werde, hänge mit dem jüdischen Glauben zusammen, erklärt Richard von Weizsäcker in der Rede zum vierzigjährigen Ende des Weltkriegs. Seiner Sicht zufolge sei jüdische Religiosität im Sich-Erinnern verankert. Aber das sind doch (Zwischenruf H.S.) gloriose Erinnerungen, etwa an Purim, das am heutigen Tag gefeiert wird, die Rettung des jüdischen Volkes durch Königin Esther, oder allen voran an Pessach, dem Entkommen aus der ägyptischen Sklaverei! Wie der Bundespräsident damals, gehen wir Deutschen der Frage aus dem Weg, die sich da aufdrängt: Muss die Erinnerung an die Shoah nicht zwangsläufig eine Re-Traumatisierung zur Folge haben? Wie kann denn die Erinnerung an die Vernichtung des eigenen Volkes zum Weiterleben ermutigen und gar zum Grundstein eines eigenen Staatswesens taugen?

Ich denke an Rachel. Vielleicht hat sie nicht nur Carl und ihren Sohn und mich im Blick gehabt, als sie uns davon abriet, dem Zwang der Erinnerung zu verfallen. Vielleicht sah sie im Vergessen etwas Hilfreiches, Wichtiges, eine Therapie, eine Befreiung. Über diese Sicht wäre wohl einiges in Erfahrung zu bringen, das womöglich auch unsern Umgang mit der Shoah trifft. Und doch: Dazu mehr lieber in einem neuen Anlauf, den ich „Vergessen II“ nennen werde.

Was das Land mit uns macht, wenn wir uns mit ihm einlassen

„Die meiste Berg-Literatur ist von Männern geschrieben“, bemerkt der Natur-Schriftsteller Robert MacFarlane, „und die meisten haben den Gipfel als Ziel im Blick. Nan Shepherds umherschweifende, sinnliche Erkundung des Cairngorm-Massifs ist erfrischend anders.“ Die Rede ist von Shepherds Büchlein „Der lebende Berg“, jener sprachlich gleichsam kondensierten Erfahrungsspur ihrer jahrelangen Wanderungen in den Bergen im Nordosten Schottlands, aufgeschrieben zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, erst dreissig Jahre später veröffentlicht, und seither allmählich zum „heiligen Text“ in der Nature-Writing-Community geworden. Einer der Prosatexte, in denen ich einzelne Passagen immer wieder aufsuche und mir selbst vorlese, als ob es Gedichte seien in einer Anthologie.

Nan Shepherd beschreibt, wie ihre Sinne die Welt der Berge registrieren, und wie sie dabei in eine andere, zugleich befremdliche und sublime Qualität der eigenen Seins-Erfahrung gerät. Dass sie dies in einer Sprache zu beschreiben vermag, die nicht in klischeehaftes Schwärmen und Hingerissen-Sein abgleitet – ganz ohne jene „rapture“ genannte Epiphanie, die in der amerikanischen Natur-Literatur von Thoreau an präsent ist – macht ihre Worte sozusagen extra vertrauenswürdig und stark. Ich vermute, dass der überaus kräftige Einschlag ins Schottische die Klarheit und Konkretheit ihrer Diktion befördert. (Beim Lesen der englischsprachigen Ausgabe „The Living Mountain“ ist mir das Glossar schottischer Wörter eine wichtige Hilfe und zugleich beglückende Erinnerung an Zeiten im Hochland, auld lang syne.)

Im Cairngorm-Massif

Zwischen Bens und Glens, Braes und Lochs finden wir uns in jene Berge versetzt, in eine Landschaft, die uns anspricht in einer Sprache, die unser Sprachvermögen überschreitet, aber unser Sein zu erschüttern vermag. So zum Beispiel angesichts der Klarheit des Wassers im Loch Avon: „Dieses Loch wurde, glaube ich, niemals ausgelotet. Ich kenne seine Tiefe, obschon nicht in Metern. Ich sah es zum ersten Mal an einem wolkenlosen Tag Anfang Juli. Wir waren im Morgengrauen aufgebrochen, überquerten den Cairn Gorm gegen neun, und setzten unseren Weg fort über den Saddle zum unteren Ende des Lochs. Dann bummelten wir die Seite hinauf, mit Blick auf den düsteren Bergkessel, und schliesslich, als die Mittagssonne senkrecht ins Wasser stach, zogen wir uns aus und gingen baden. Das klare Wasser stand uns bis zu den Knien, dann bis zu den Hüften. Wie klar es war, konnte nur dieses Hineingehen offenbaren. Hindurchzusehen bedeutete, seine eigentliche Beschaffenheit zu entdecken. Was wir unter Wasser sahen, war von einer schärferen Klarheit als das, was wir durch Luft hindurch sahen. Wir wateten weiter in die Transparenz hinein, und die Weite des Wassers nahm zu, wie es immer geschieht, wenn man sich auf oder unter ihm befindet, sodass das Loch nicht länger eng wirkte, sondern die andere Seite weit weg war. Dann blickte ich hinunter, und zu meinen Füssen eröffnete sich ein Schlund von Klarheit, so tief, dass mir der Atem stockte. Wir standen an der Kante einer Felsplatte, die sich ein paar Meter weit ins Loch erstreckte, bevor sie steil abfiel in den Lochgraben, der der wahre Grund ist. Und durch diese unmäßige Klarheit loteten wir mit unseren Blicken die Tiefe des Grabens aus. So durchsichtig, dass jeder Stein erkennbar war. Ich machte meiner Begleiterin, die einen Schritt hinter mir war, ein Zeichen, und sie kam und blickte wie ich hinab in die Unterwasserschlucht. Dann sahen wir einander in die Augen, und wieder in den Graben. Ich watete langsam zurück, in flacheres Wasser. Es gab nichts, das es wert schien, gesagt zu werden. Mein Geist war so nackt wie mein Körper. Es war einer der wehrlosesten Momente meines Lebens.“ ( Aus: Nan Shepherd: Der lebende Berg. Eine Huldigung der Cairngorms. Aus dem Englischen von Judith Zander. Mit einer Einführung – Übersetzung seiner Einführung in die englischsprachige Ausgabe – von Robert MacFarlane. Berlin: Matthes & Seitz 2020, S. 57/58; Nan Shepherd: The Living Mountain. Edinburgh: Canongate Books 1996, ursprgl. Aberdeen Univ. Press 1977)

Oder die Passage mit den Mauerseglern: “ – als zum ersten Mal die Sonne strahlte, die Luft lau war und wir an der Kante eines äusseren Abgrunds standen, schreckte ich plötzlich von einem pfeifenden Geräusch hinter mir auf. Etwas Dunkles sauste seitlich an meinem Kopf mit einer Schnelligkeit vorbei, von der mir schwindlig wurde. Kaum hatte ich mein Gleichgewicht wiedergefunden, als es noch einmal kam, durch die windstille Luft pfeifend, die durch die Bewegung um mich herum wirbelte. Dieses Mal waren meine Augen vorbereitet und ich erkannte, dass ein Mauersegler in weitausholenden Bögen über den Rand des Plateaus fegte, sich längs des Felsens hinunterstürzte und wieder aufstieg wie ein Wasserstrahl. Niemand hatte mir gesagt, dass ich in diesen Bergen Mauerseglern begegnen könnte. Adlern und Schneehühnern, ja: doch dieser erste Anblick der verrückten, fröhlichen Unbekümmertheit des Mauerseglers, wieder und wieder über demselben Rand des Abgrunds, ließ mich vor Aufregung und Begeisterung erschauern. All diese Salven von Geschwindigkeit, diese Volten von Vergnügen, um ein paar Fliegen zu fangen! Dieses Unverhältnis zwischen Absicht und Ausführung ließ mich laut auflachen – ein Lachen, das mir das gleiche Gefühl der Befreiung bescherte wie ausgiebiges Tanzen. Es scheint seltsam, dass blosses Beobachten von Flugbewegungen dem Körper nicht nur stellvertretend Spaß bereitet, sondern auch Befreiung verschafft. Der Rhythmus ist so zwingend, dass er ins Blut geht. Diese Macht des Fliegens, uns durch die Augen mitzunehmen, als ob wir tatsächlich an der Bewegung teilhätten, habe ich niemals so stark gespürt wie beim Anblick von Mauerseglern auf Bergeshöhen. Wie sie sich kopfüber hinunterstürzen, mit jeder Kurve zugleich ein Wunder an Grazie vollführen, pfeifend die Luft teilen und sie mit ihrem gelegentlichen hohen Schrei erfüllen, der kaum wie der Laut eines irdischen Vogels klingt; dies alles scheint etwas vom Wesen des freien, wilden Geistes der Berge sicht- und hörbar zu machen.“ (dt. Fassung S. 111-112)

Fels und Wasser, Flechten, Gräser, Bäume, Schneehühner, Eulen und Adler, Hirsche und Hasen treten als Gegenüber hervor, ihr Erscheinen vermittelt eine aufregend andere, kostbare sinnliche Realität, die Stück für Stück den Zusammenhang der ganzen Bergwelt vor Augen führen, so dass der Berg als lebender Organismus erkennbar wird, ja sich als facettenreiche Persönlichkeit zu erkennen gibt:

„Ich habe von unbelebten Dingen geschrieben, Felsen und Wasser, Frost und Sonne, und es könnte so aussehen, als sei dies keine lebendige Welt. Ich wollte jedoch zu den lebenden Dingen über die Kräfte kommen, die sie erschaffen, denn der Berg ist in sich eins und unteilbar, und Fels, Erde, Wasser und Luft machen ihn nicht mehr aus als das, was aus der Erde wächst und die Luft atmet. Sie sind alle Aspekte einer Einheit, des lebenden Bergs. Das zerbröckelnde Gestein, der nährende Regen, die belebende Sonne, der Samen, die Wurzel, der Vogel – sie sind alle eins. Adler und Alpen-Ehrenpreis sind Teil der Ganzheit des Berges. Saxifraga – der Steinbrech – in einigen seiner hübschesten Formen, stellaris, der mit seinen einzelnen Blüten die hohen, steinigen Bergkesselbäche besternt, und aizoides, der Polster wie aus sanftem Sonnenschein in ihren niedrigeren Abschnitten bildet – sie können nicht ohne den Berg leben. Genau so gut könnte man vom Augenlid erwarten, vom Auge abgetrennt zu funktionieren.“ (dt. Fassung S. 98)

Wer von uns, die wir einen ökologisch informierten Blick auf die Welt pflegen, würde sich beim Lesen dieser Passage nicht an Alexander von Humboldts Zusammenschau geographischer und botanischer Daten erinnern, die er 1807 in dem berühmten „Naturgemälde der Anden“ vor Augen geführt hat? Seine Auffassung der Erscheinungen ist immer noch Grundlage jener Perspektive auf die Natur, die Wechselwirkung und Kontinuität wahrnimmt und deren Gestalt als je eigenen, komplexen Organismus erkennt.

Alexander von Humboldt: Geographie der Pflanzen in den Tropen-Ländern. Ein Naturgemälde der Anden (wikimedia commons)

Und natürlich drängt sich der Gedanke an die Gaia-Hypothese auf, die von James Lovelock und Lynn Margulis in den Neunzehnsiebzigerjahren vorgetragen wurde: Das Unternehmen, jene uralte Vorstellung naturwissenschaftlich plausibel zu machen, wonach die Erde selbst als komplexer Organismus zu verstehen ist, als Lebewesen für sich. Lovelock verfolgte zwar eine wissenschaftsgebundene Argumentation, in der er systemische Zusammenhänge (etwa zum Sauerstoffgehalt der Atmosphäre) herausstellte, ging aber mit dem Namen Gaia – dem der Erdmutter im griechischen Götterhimmel – darüber hinaus, als ob er an die alte heidnische Sicht einer beseelten Welt anknüpfen wollte: Mutter Erde erhält das Leben, bei allem Wandel bleibt sie verlässlich wie der fruchtbare Boden, der aufnimmt und sich anverwandelt, was stirbt, und sich allen Lebewesen gegenüber freundlich zeigt. Vielleicht hätte Alexander von Humboldt die Gaia-Hypothese auch in dieser Hinsicht unterstützt: Er war ja vom Studium der heidnischen Kultur Griechenlands geprägt.

Eine interessante Koinzidenz liegt in der Gleichzeitigkeit des Auftauchens der Gaia-Hypothese und fotografischer Aufnahmen der Erde aus dem All. Nach dem ersten Foto unserer auffallend blauen Murmel Ende 1968 wurde der staunenden Weltöffentlichkeit in den Folgejahren und -jahrzehnten eine anschwellende Flut von Bildern vor Augen geführt, die immer noch anhält und immer noch überraschend neue Blickwinkel vorführt. Von der ersten Aufnahme an ist mir die Erde dabei jedoch nie als mächtige Muttergottheit erschienen. Mit blauweissen Flecken hübsch gemustert, registriere ich vor der Kulisse des unermesslichen schwarzen Raumes vor allem die offensichtliche Verletzbarkeit des Winzlings. Da hängt unser Planetchen, zerbrechlich und gefährdet: Es drohen Meteoreinschläge, Vulkanausbrüche, Klimaumschwünge mit Eiszeiten oder Heisszeiten, Bakterien-, Viren- oder Parasiten-Mutationen, die ein neues Massensterben auslösen, wie es Gaia schon öfters heimgesucht hat. Und da ist vor allem die tonangebende Unfähigkeit und Überheblichkeit dieser einen Spezies, die das jüngste Erdzeitalter mit ihrem eigenen Namen „Anthropozän“ genannt hat und die jetzt dabei ist, sich selbst mitsamt dem ganzen Ökosystem gegen die Wand zu fahren.

NASA Wikimedia Commons

Die Gaia-Hypthese hatte die Erde selbst als Agentin ins Spiel gebracht: Als Lebewesen, das Interesse am eigenen Fortbestand hat und uns deswegen wie eine verlässliche Verbündete erscheinen mag. Aber die Verlässlichkeit wird nun durch die auf einen Blick erkennbare Verletzbarkeit der blauen Murmel konterkariert. Klarer als Generationen vor uns sehen wir den Planeten, auf dem wir leben, und genauer erkennen wir, wie alles miteinander zusammen hängt. Eine Erkenntnis, die dabei helfen sollte, rettende Wege zu finden, die indes das Rettende selbst nicht formuliert. Dies müsste in der Tat von uns selbst artikuliert werden, inmitten einer Öffentlichkeit, die zunehmend und durchgängig von Eigeninteressen bestimmt wird und feindselige Muster verfolgt. Skeptisch frage ich: Tritt nicht auch jede Person, die sich als Retter inszeniert, unweigerlich in die Spuren von Managern, also als jemand, der Hybris wie eine Krankheit an sich trägt?

Nan Shepherd erfährt den Berg mit allen Sinnen und bedauert, das sie keinen Zugang zu den phantastischen Sinneserfahrungen von Tieren und Pflanzen, von Wasser und Fels im atmosphärischen Spiel der Lüfte hat, – sie müssen ja unvorstellbar aufregende Eigenschaften der Materie erfahren, die uns verborgen sind. Und trotzdem: welcher Reichtum bleibt auch für uns! Sie berichtet davon, wie sie beim Gehen in einen Zustand der Gelöstheit gerät, bei dem „das Fleisch nicht verneint, sondern erfüllt“ ist. Dabei geht sie gewissermassen in den Berg hinein, bis sie selbst Teil des lebenden Berges geworden ist: „Ich bin eine Erscheinungsform der Gänze seines Lebens, so wie es der Stern-Steinbrech ist oder das weissflügelige Schneehuhn.“ (S. 164) Dieser Weg mag einer buddhistischen Pilgerschaft gleichen. Aber die Gottsuche führt sie nicht zu irgendeiner Verzückung, wie sie erklärt, sondern zu sich selbst: „Ich bin nicht ausser mir, sondern in mir. Ich bin. Das Sein kennenzulernen, das ist schliesslich die größte Gnade, die die Berge gewähren.“ (S. 166: letzte Sätze des Textes)

Der Riss, der durch das Anthropozän geht: Hängt er nicht damit zusammen, dass wir Fremde auf diesem Planeten geworden sind? Wie Aliens vom Mars oder einem transzendenten Punkt jenseits des sinnlich erfassbaren Universums. Allmählich dämmert uns immer klarer, dass unsere vermeintliche Lizenz zum Töten gefälscht war, und wer genau hinzuhören versteht, kann aus dem Befehl „Macht euch die Erde untertan“ den Fluch heraushören. Vielleicht, dass der Weg zurück weder von politischen Visionären noch von Strategen des Management abhängt, sondern dass die Hoffnung des Planeten bei den eher geltungsarmen Personen liegt, die mit ihrem Sein und Tun im Bereich ihrer eigenen Zuständigkeit für den Fortbestand der lebenden Substanz sorgen. Nan Shepherds Text ist ein Lobgesang, in dem neben dem Leitmotiv der Berge ihr eigenes Sein anklingt: Wie Töne in einer Melodie, so ist sie in der Welt.

Gruss vom Federgeist

Das Deckweiss hat sich im Lauf der Jahre in der grossen Tube zersetzt zu einem Teil Paste und einem milchähnlichen Teil Wasserweiss, das nur ein blasses Druckbild gibt. Die Gänse-Daunenfeder auf meinen Grusskarten zum neuen Jahr kommt deswegen schwach heraus, was aber wie Absicht wirkt, wenn ich den Druck einfach kieloben drehe: Ist es dann nicht, als ob etwas Zartes und Zerzaustes vom Himmel fiele? Vielleicht erinnert das Federchen manchen an die ersten Zeilen von Mörikes Neujahrsgedicht „Wie heimlicher Weise ein Engelein leise mit rosigen Füssen die Erde betritt: so nahte der Morgen.“

Vielleicht entnehmen andere der Feinheit und Leichtigkeit des Federdrucks sogar eine Art Memento spiritus, eine Erinnerung an die geistige Dimension in allen Dingen, die uns begegnen. Was mich betrifft, so ist meine Sichtweise sicher von der Lektüre geprägt, der ich mich in diesen Wintertagen und -abenden anheim gebe. Was ich lese, verfolgt mich manchmal bis in den Schlaf.

Das neue Büchlein von Emanuele Coccia ist ein erheiternder Schatz kühner Vorstellungen. (Coccia: Das Zuhause. Philosophie eines scheinbar vertrauten Ortes. München: Hanser 2022) Wie bei seinen Büchern über die Macht der Pflanzen und über die Allgegenwart der Metamorphosen geht es auch hier wieder um Grenzüberschreitungen, das Verwischen von hergebrachten Kategorien und die Auflösung des Individuums mitsamt seinem „Ich“. In der neuen Abhandlung untersucht er die Dinge, mit denen wir unser jeweiliges Zuhause einrichten. Er zeigt uns, wie wir sie als Extensionen unseres persönlichen Lebens begreifen, und wie wir den Austausch, der zwischen ihnen und uns vonstatten geht, als Vorgang wechselseitigen Belebens oder Beseelens verstehen müssen.

„Die Dinge des Zuhauses erwachen bei unserer Ankunft zum Leben, weil sie in diesem Augenblick ein Teil von uns werden. Kleidung, Zettel, auf die wir beim Telefonieren etwas gekritzelt haben, ein Gemälde oder das Spielzeug unserer Kinder, all diese Dinge existieren, als wären sie Subjekte, nichtmenschliche Ichs, die uns anblicken und mit uns kommunizieren.“ (S. 56) Die Vertrautheit mit den Dingen ist mir geläufig, aber sie sind in meinem Fall jedenfalls nicht durchgängig ein bloss zufällig zustande gekommenes Sammelsurium, sondern eher das bewusste Arrangement ausgewählter Gegenstände. Die vielen Erinnerungsstücke, die ich in meinem Haus zusammengetragen habe, sind auf Tischen und in Regalen positioniert oder schauen mich von den Wänden an wie die Menschen, an deren Begegnung sie mich erinnern, oder sogar als verschlüsselte Souvenirs vergangener Epiphanien, die nur ich zu dekodieren verstehe. Als ob ich im Innern meines „Medizinbeutels“ wohnte, dessen Zauberdinge mir beim Bestimmen der gegenwärtigen Position meiner Reise helfen.

Coccia bezeichnet das Zuhause als „Raum eines unabsichtlichen Animismus„, und findet bei seinem atemlosen nächsten Gedankenschritt nebenan im Kunstmuseum einen verwandten Raum, der unsere Neigung zur Beseelung der vermeintlich toten Dinge womöglich noch deutlicher vor Augen führt, weil die persönliche Bindung an die Gegenstände der eigenen Wohnung vor den ausgestellten Kunstwerken durch eine Art kommunikativer Anstrengung überschritten wird und somit eine universale Disposition zum Vorschein bringt. „Besucher bestaunen stundenlang Materie – mit Pigmenten überzogenes Leinen, Holz, Bronze, Marmor, Blei – und sind überzeugt, die Gedanken, Einstellungen und Empfindungen einer Person erkennen zu können, der sie niemals begegnet sind.“ (S. 59/60) „Stundenlang“ klingt für mich zunächst übertrieben, aber dann erinnere ich den Besuch im Amsterdamer Rijksmuseum vergangenes Jahr, als Elisabeth und ich immer wieder noch einmal zu Rembrandts Gemälde „Die jüdische Braut“ zurückkehrten, um uns an dem unglaublich dicken Goldfarbenauftrag zu ergötzen – womöglich ergötzten wir uns an unserem eigenen Ergötzen, und die ungewöhnlich starke Farbschicht war Auslöser eines ganz und gar psychischen Vorgangs – oder um nach Anhaltspunkten für unsere Spekulation zu suchen, dass das Bild nicht nur die biblische Erzählung von Isaak und Rebekka illustriert, sondern auch zwei Amsterdamer Zeitgenossen porträtiert, – am Ende kam es jedesmal zu einem Schub an Bewunderung: Für die Kühnheit der Geste, für die Innigkeit der Berührung, für die geniale Struktur der drei übereinander liegenden Hände: sie schaffen eine Statik, die dies Bild in der Wirklichkeit des Geschehens verankert, die an jenem Oktobertag des Jahres 2021 auch uns einschloss.

Rembrandt van Rijn, Die jüdische Braut, Öl auf Leinwand, 121,5 x 166m5 cm, Rijksmuseum Amsterdam

Coccia resümiert die universale Erfahrung in Museen: „Tatsächlich sind sie Tempel eines unbewussten kollektiven animistischen Kultes, der es uns erlaubt, Dinge zu verehren, und uns erkennen lässt, dass auch unbelebte Materie eine der unseren vergleichbare Seele bergen kann.“ (S. 60)

Meine Angewohnheit, ganz verschiedene Bücher nebeneinander zu lesen, hängt damit zusammen, dass ich bei solcher Lektüre einzelne Gedanken und Formulierungen finde, die mir sozusagen kostbar erscheinen . Die greife ich mir heraus, ganz gleich, ob sie am Anfang oder Ende eines Buches stehen und unabhängig von ihrem Stellenwert im Gewebe des Textes. Manchmal fällt mir auf, dass verschiedene Texte zu Themen, die auf den ersten Blick weit voneinander entfernt liegen, einander überschneiden und sich gewissermassen wechselseitig beleuchten. Diese Stücke schneide ich aus und nähe sie zu einer eigenen Patchworkdecke zusammen, an deren Muster ich mich dann ergötze.

Das Buch „Geflochtenes Süssgras“ von Robin Kimmerer lese ich in der amerikanischen, überraschender Weise nach Angaben des Verlags eine Million mal verkauften Ausgabe (Braiding Sweetgrass“, Minneapolis: Milkweed 2013; deutsch in der Übersetzung von Elsbeth Ranke im Aufbau Verlag, Berlin 2021): Ein Kompendium von 390 (deutsche Ausgabe 461) Seiten, das lauter verschiedene Facetten der belebten und beseelten („animistischen“) Weltsicht der indigenen Völker in Form von persönlichen Berichten der Verfasserin enthält. Kimmerer ist Potawatomi, erzählt aber auch von Ojibwe, Cheyenne, Irokesen und vielen anderen alten Nationen, die bei unterschiedlicher Sprache eine ähnliche Haltung gegenüber den Dingen äussern, die ich als Objekte zu sehen gelernt habe: Sie nehmen sie als Personen wahr. Dr. Kimmerer ist als Biologin mit dem Forschungsgebiet Bryologie (Mooskunde) auch in der Wissenschaft zu Hause und mit der wissenschaftlichen Weltsicht aufs Beste vertraut, und sie kann schreiben: Es ist eine Freude, ihren Argumenten zu folgen, die stets im Gewand von Geschichten vorgetragen werden, was uns Lesern hinreichend Raum lässt, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen.

Besonders aufschlussreich erscheint mir, was sie im Abschnitt über das Vokabular und die Grammatik der Sprachen berichtet, die eine animistische Weltsicht abbilden und zugleich vorantreiben. Was bedeutet es, dass diese Sprachen offenbar durch Verben bestimmt sind? Beim Sprachenlernen findet sie in einem Ojibwe-Wörterbuch wiikwegamaa: „Eine Bucht sein“, was ihr auf den ersten Blick als Unfug vorkommt, bis ihr klar wird, dass „Bucht“ nur dort als Substantiv erscheint, wo man Wasser als totes Objekt wahrnimmt. „Eine Bucht sein“, schreibt sie, „– das bewahrt das Wunder dieses Augenblicks, in dem das lebendige Wasser beschlossen hat, sich zwischen den Stränden einzuschmiegen, und mit den Wurzeln der Zedern und einem Trupp Gänsesäger-Gösseln zu kommunizieren.“ (S. 55) In dieser Sprache sind auch Felsen und Berge und Orte lebendige Wesen, von einem jeweils eigenen Geist beseelt. Natürlich sehe ich mich da erinnert an Jakob Grimms „Deutsche Mythologie“, an das dort beschriebene heidnische Weltbild unserer Völker vor der Ausbreitung des christlichen Glaubens mit seiner transzendentalen Verankerung. Ob die altgermanischen und altslawischen Sprachen die belebte und beseelte Welt auf ähnliche oder irgendeine andere Weise abbildeten wie die der Ureinwohner Amerikas, so weit diese dem Prozess der Verdrängung und Ausrottung entkommen sind? Robin Kimmerer erzählt vom Aha-Erlebnis eines ihrer Studenten, dem der indigenen Sprachen innewohnende Respekt gegenüber der natürlichen Welt aufgefallen war: „Heisst das nicht, dass Englisch zu sprechen, Englisch zu denken, uns irgendwie erlaubt, die Natur zu missachten? Weil wir allen anderen das Recht absprechen, eine eigene Person zu sein?“

Dieser Student greift genau das Argument auf, das Lynn White in seinem epochemachenden Essay „Die historischen Wurzeln unserer ökologischen Krise“ (bereits 1966, genaueres in meinem Naturlesen-Blog „Die Entseelung der Natur bringt die Ausbeutungs-Lizenz mit sich“ vom 7. Feb. 2022) vorgetragen hatte, als er daran erinnerte, dass im Altertum jede Quelle, jeder Berg, jeder Baum einen eigenen Schutzgeist hatte, den es zu befragen und zu besänftigen galt, bevor man irgendwelche Eingriffe vornehmen durfte. Der Wegfall dieser Beseelung der Natur durch das Christentum habe den Menschen die Lizenz zu Ausbeutung und Vernichtung an die Hand gegeben. Robin Kimmerer bringt noch einen anderen, gewissermassen fürsorglichen Aspekt ins Spiel: Angenommen, die natürliche Welt wäre voller Personen, mit denen wir sprechen, von denen wir lernen können – „Stell dir vor, um wie viel weniger einsam die Welt dann sein würde.“ (S. 58)

Beim Lesen der 32 Abschnitte ihres Buches fällt das Gewicht des Konzepts „Dankbarkeit“ auf: Vier Titel sind ihm gewidmet, und das Thema durchzieht den gesamten Text als eine Art Grundmelodie. Das Wort „Dankbarkeit“ bezeichnet in unserer Sprache ähnlich wie im Englischen „gratitude“ etwas Abstraktes, Latentes, eine innere Einstellung, die gelegentlich zutage tritt. In der beseelten Welt, die wir „animistisch“ nennen, ist alles konkret zu beobachten und mit Händen zu greifen. Dankbarkeit ist da der Morgensegen, das erste, was du nach dem Aufstehen aussprichst, die Loyalitätserklärung der Kinder beim Morgenritual in der Schule, die Geste des Hinstreuens von Tabakkrümeln, hundertfach wiederholt bei all deinen Interaktionen mit Pflanzen in Feld, Wald und Garten. Für das Verhalten, das Kimmerer „Ehrenhaftes Ernten“ (Honorable Harvest) nennt, führt sie eine Art ritueller Dankbarkeits-Bezeugungen aus: „Stell Dich selbst vor! Du kommst, um Leben zu nehmen: Übernimm Verantwortung dafür. Frag um Erlaubnis, bevor du nimmst. Und richte dich nach der Antwort. Nimm niemals die erste Frucht, und nimm niemals die letzte. Nimm nur, was du brauchst. Nimm nur, was dir gegeben ist. Nimm niemals mehr als die Hälfte. Lass anderen auch etwas. Ernte so, dass der Schaden minimal bleibt. Verwende das Erntegut auf respektvolle Weise. Vergeude nicht, was du genommen hast. Teile! Bedanke dich für das, was dir gegeben worden ist. Gib eine Gabe im Gegenzug für das, was du genommen hast. “ (S. 183)

Darstellung der „Drei Schwestern“-Methode auf einer 2009 herausgegebenen US-Dollarmünze; wikipedia, gemeinfrei

Die Diesseitigkeit der Vorgänge, die das immanente Weltbild der indigenen Kulturen kennzeichnet, färbt auch auf den Kimmerer-Text ab. Ihr konkreter Blick auf eine mit Händen zu greifende Welt erweist sich, so scheint mir, auch als wissenschafts-verträglich. Ich selbst, so oft überschüttet von Metaphern und transzendentalen Zumutungen, erfahre den Fokus auf das Diesseitige als Wohltat. Für das Frühjahr 2023 nehme ich mir vor, im Garten ein Beet für die „drei Schwestern“ anzulegen, genau, wie in Kimmerers Text beschrieben: Ich werde Maiskörner, Saatbohnen und Kürbiskerne aussuchen und auf sorgfältig angehäufelten Flecken von Komposterde in den Boden stecken: Zuerst die Maiskörner, und dann später, wenn sie aufgelaufen sind, rundherum Bohnen und Kürbiskerne. Ich sehe vor mir, wie die Bohnen an den Maisstängeln emporwachsen, und wie die Kürbisblätter den Boden abdecken. Ich werde die Pflänzchen mit Wasser aus der Regentonne versorgen und ihr Wachstum verfolgen und eine doppelte Freude daran haben. Schliesslich ist diese Mischkultur das Kind eines in Vergessenheit geratenen Mit-der-Natur-Seins, dessen Geist mir willkommen ist.

Wohnt die geistige Dimension unserer Erfahrung den Lebewesen und Dingen inne, mit denen wir zu tun haben und Austausch pflegen, oder ist sie getrennt von allem in dieser Welt, so dass wir an eine separate, abstrakte, transzendente Macht denken müssen, die sich unseren Vorstellungen entzieht, aber gleichwohl Herrschaft über die Welt und die Menschen beansprucht? – Eine alte Frage, die beim Lesen von Robin Kimmerers Süssgras-Buch aufs Neue aktualisiert wird und mir bis in den Schlaf nachgeht. Wahrscheinlich ist es bei meiner Lebensweise erklärbar, dass mir im Traum manchmal auch Bücher erscheinen, oder vielmehr Geschichten aus Büchern, die ich vor Zeiten gelesen habe, oder, noch genauer, Figuren aus solchen Geschichten. So erscheint mir Natalie, ein zwölfjähriges Hopi-Mädchen, deren Auftritt bei mir einst beim Lesen – vor mehr als dreissig Jahren – einen tiefen Eindruck hinterlassen hat, einen viel tieferen auf mich, wie mir scheint, als auf Robert Coles, der das Gespräch mit ihr führte und in seinem Buch „The Spiritual Life of Children“ darüber berichtet. (Boston: Houghton Mifflin 1990; deutsche Ausgabe unter dem irgendwie irreführenden Titel „Wird Gott nass, wenn es regnet? Die religiöse Bilderwelt der Kinder“ Hamburg: Hoffmann und Campe 1992) Der Psychologe Coles ist ein tief religiöser Mensch, der mit Kindern Gespräche von theologischem Tiefgang zu führen versteht. Er zeigt, wie Kinder den christlichen Erlösungsglauben üben, sich islamisch der Unterwerfung hingeben, dem jüdischen Studium der Gerechtigkeit folgen und selbst dann, wenn sie in agnostischen Familien zu Hause sind, einen Lebens-Sinn suchen, der religiöse Züge trägt. Der Rahmen dieser Berichte ist stets durch das Transzendente vorgegeben, eine gemeinsame Sinnsuche des Kinderfreunds Robert Coles mit seinen kindlichen Gesprächspartnern, bei der sich der psychologisch versierte Erwachsenen auf gleicher Ebene wie die Kinder bewegt. Einzig Natalie fällt aus diesem Rahmen. Das Gespräch mit ihr – von Freunden arrangiert – findet an einem heissen Sommernachmittag in Arizona statt. Der Blick geht über die Wüste zu einem der Tafelberge, die das Zentrum der Hopi-Kultur sind, und in den Himmel hinein, wo zwei Raubvögel kreisen, von Natalie aufmerksam verfolgt und öfters als Gesprächsthema eingespielt. Sie sehen alles, sagt sie. vielleicht werden wir, wenn wir tot sind, selbst als Raubvögel da sein. Coles empfindet dies als Abschweifung vom eigentlichen Gegenstand des Gesprächs und ist versucht, Natalie für unhöflich zu halten. Es entgeht ihm, dass das Gespräch über Spiritualität längst begonnen hat. Und dass auch Blackie, Natalies geliebte Hündin, als Person an diesem Gespräch teilnimmt. Coles beobachtet, dass Kind und Hund einander aufrichtig zu lieben scheinen. Wie in einem Film sehe ich im Halbtraum oder Halbschlaf die Schlüsselszene dieser Begegnung vor mir: Als Coles klar wird, dass weder Natalies Eltern noch sie mit dem Wort „Gott“ etwas anfangen können, fragt er das Kind, was denn dieser „Geist“ („spirit“) ist, den sie so oft anführen. Nach einer nachdenklichen Pause spricht Natalie: „Ich weiss nicht, was ich sagen soll“, nur um dann mit einer Art Pantomime zu antworten. Sie steht auf und beginnt, sich wie eine Diskuswerferin zu drehen, um schliesslich eine imaginäre Scheibe in Richtung der Mesa zu schleudern. Blackie scheint dies Spiel zu kennen, sie rennt los und fegt wie ein lebendes Geschoss über den Wüstenboden, macht nach 20, 30 Sekunden kehrt und kommt zu Natalie zurück, die sie umarmt und sich bei ihr bedankt. Coles ist ratlos. In seinem Bericht schreibt er: „Was hatte diese Pantomime mit unserem Versuch einer rational geführten Diskussion zu tun?“ Natalies Erklärung, so nehme ich an, hat er von seiner Tonbandaufnahme übernommen. Hier sind Natalies Worte: „Der Geist – das ist, wenn du für jemanden rennst. Wenn du versuchst, jemandem ein Signal zu senden. Er ist da, wenn du so sehr du selber bist wie du nur sein kannst. Als Blackie gerannt ist, da war ihr Geist zu sehen für dich und für mich. Als ich meinen Arm herumgeschleudert habe, da hat mein Geist zu ihrem Geist gesprochen. Jedesmal, wenn ich ihr in die Augen schaue und an sie denke, und an alles, was sie tut, und was sie für uns gewesen ist, versuche ich, ihren Geist zu sehen, glaube ich.“

Coles fasst die Summe dieser Begegnung mit seinem klaren hermeneutischen Blick zusammen: „Natalie versteht sich, wie so viele Hopi, nicht als Eigentümerin des derzeit in ihr wohnenden Geistes. Ihr Körper ist ein Glied der Lebenskette, so wie all diese Glieder Teile eines Universums des Lebendigen sind.“ Und er fügt einen Satz hinzu, der mich beim Lesen schmerzt: „Ich bin mir einigermassen sicher, dass diese Wörter Natalies spiritueller Vision gerecht werden, aber ich bin unfähig, sie ganz zu verstehen oder mich darin zu Hause zu fühlen.“ (S. 156/157, übers. H.S.)

Natalie, Robin Kimmerer, Emanuele Coccia – vielleicht ist ihre Prominenz nur das Ergebnis meiner alten Neigung, lieber Indianer als Cowboy zu spielen. Womöglich tritt da auch eine Ansicht des Anthropozän zutage, die den Zusammenhang zwischen dem fest verankerten selbstherrlichen Herrschaftsanspruch der Menschen und der Tatsache erkennt, dass wir dabei sind, den Karren an die Wand zu fahren. Aber selbst dann, wenn die Rückbesinnung auf die Beseeltheit und Belebtheit der Welt das Rettende nicht geben können – zu wenig, zu korrupt und zu spät – , bringt sie doch einen Reichtum mit sich, der das Gegenwärtige zu verzaubern vermag.

Auf dass wir in den kommenden Zeiten der Fülle des Lebens begegnen!

Den Maskentänzern ein Willkommen! Emanuele Coccias Stimme für eine Renaissance der alten Nähe zu Tieren

Maskerade als Monarch-Schmetterling. Venedig, Februar 2015

Unter den vielen, die aus allen Weltgegenden jeden Februar zur Karnevalszeit nach Venedig kommen, um sich – in aufwändigen Verkleidungen maskiert – in der Öffentlichkeit zu zeigen und von Hunderten unbekannter Touristen fotografiert zu werden, trafen wir (Touristen) vor einigen Jahren (2015) eine Dame, die sich als Monarch-Schmetterling ausstaffiert hatte. Unter vielen historischen Kostümen und den Commedia dell‘ arte-Figuren einheimischer Darsteller gehörte sie zu einer Kategorie von Federschmuck-dominierten Phantasiegestalten, wie sie anscheinend gern von Gästen aus fernen Ländern in Szene gesetzt werden. Möglicherweise war sie aus Amerika, dem Lebensraum des Monarchfalters, nach Venedig gekommen. Hier nahm sie die Gassen als ihr Bühnengelände, suchte die Nähe von Leuten mit Kameras, stellte sich beim Fotografiert-Werden in Positur und winkte graziös mit der Handschuh-Hand, wenn man ihr für das Foto dankte.

An den prachtvollen Maskenläden und – werkstätten vorüber flanierend, die das Bild venezianischer Gassen zu dieser Saison prägen, fanden wir einige auf Tiermasken und Tierkostüme spezialisierte: Elefanten- und Rhinozerosköpfe aus Pappmaché, vogelartige Gewänder und Massen von Haustiergesichtern, vom Hund über den Gockel zum Schwein. All die von Feengewändern und Phantasieuniformen dominierten Paradegänger haben offenbar eine Nische für Tiere gelassen, – vielleicht ein Echo der ursprünglichen Verkleidungslust, die ja eine Lust am Sich- Verwandeln ist, ein altes Spiel zum Wechsel aus eingewohnten Identitäten. Bereits der Teufel in Bocksgestalt ist da ja ein Spiegel noch älterer Metamorphosen, die das Innere anderer Lebewesen hervorgehoben und sich anverwandelt haben. Die innere Verwandtschaft zu bestimmten Tieren prägte einst das soziale Leben der Menschen. Unter dem Sammel-Begriff „Totemismus“ versteht man in der Völkerkunde verschiedene Beziehungsmuster zu einem tierischen Schutzgeist. Immer noch wird die Praxis geübt, wie mir ein Bekannter, der einem Hirtenvolk angehört, in Uganda versicherte. Und unter den Indianern an der amerikanischen Nordwestküste, die durch ihre Totempfähle bekannt sind und auf die das Wort „Totem“ zurückgeht, wird die totemistische Maskierung immer noch geübt. Einem Fotografen wie Chris Rainier gelingt es, die brutale Ernsthaftigkeit solcher Masken vor Augen zu führen. (Ich fand die Aufnahme aus Alaska im Magazin „Orion“ und ergötzte mich an Fotos aus Afrika, Zentralasien und den Alpenländern unter http://www.maskjourney.com)

Chris Rainier Mask Photography. Alaska. http://www.maskjourney.com und Buch Mask:Chris Rainier. Earth Aware Editions 2019

Derartige spirituelle Beziehungen zu nichtmenschlichen Spezies sind sehr alt. Felsbilder aus der Kulturepoche namens Magdalenien, deren Alter auf 14000 Jahre geschätzt wird, zeigen einen als Bison maskierten Menschen, der wohl einen Mundbogen (Musikinstrument) spielt und dazu inmitten einer Masse von ganz unterschiedlichen Tieren tanzt. Hier zuerst die Umzeichnung des gesamten Bildes, und darunter der Ausschnitt des maskierten Tänzers.

Felsbild aus der Höhle „Trois Frères“ , Okzitanien im Département Ariège, etwa 14000 Jahre alt
Der maskierte Tänzer aus dem Wimmelbild oben

Möglicherweise sind Tiere zu verschiedenen Zeiten und Anlässen hinzugefügt worden. Aber das resultierende Gesamtwerk präsentiert eine zauberhaft leicht anmutende Szene aus einer Zeit ihrer Herrschaft über die Welt: Die Menschen waren damals nicht nur eine in der Gesamtpopulation verschwindend kleine Minderheit, sondern auch eine gefährdete Spezies.

Maskierter Tänzer aus der Höhle Trois Frères in Südfrankreich, etwa 14000 Jahre alt Umzeichnung eines farbigen Wandbildes. Wiki Commons

Aus der gleichen Höhle stammt die eindrucksvolle Einzeldarstellung eines Tänzers, der als hirschartiges Wesen maskiert auftritt. Wir wissen nicht, ob es sich eher um eine Darstellung des Schamanentums handelt oder um das Bild eines Tiergottes oder um die Beschwörung eines tierischen Schutzgeists im Sinne des individuellen oder kollektiven Totemismus. Aber dass es sich um eine tierische Maskerade handelt, ist nicht zu bestreiten, und dass die Schranke zwischen Mensch und Tier, die im Fortgang der abendländischen Zivilisation errichtet wurde, damals noch überwindbar erschien, wird hier zumindest plausibel.

Gerade lese ich „Metamorphosen“, das neue Buch von Emanuele Coccia, der uns schon einmal, mit seiner Studie über die Macht der Pflanzen, Titel „Die Wurzeln der Welt“ (2018), eine wunderbar neue Sicht auf Einfluss und Bedeutung der Lebewesen im Prozess des Lebens vermittelt hat. „Metamorphosen“ weitet diese Sicht aus und schliesst Tiere wie uns, aber auch Pflanzen und Viren und Pilze mit ein. Zusammen bilden wir eine den Planeten Erde umgreifende miteinander gewissermassen verfilzte Lebensschicht. Deren Substanz, die besser zu beschreiben wäre als andauernder Austausch von Stoffen und Informationen, als dauernde Bewegung und endloser Wandel, schliesst auch den Tod als vorübergehende Phase ein. (Metamorphosen. Das Leben hat viele Formen. Eine Philosophie der Verwandlung. München: Hanser 2021). Mich erinnert diese Perspektive, zumal auch Coccia die Bewegung der Atome als letzter Beweg-Grund gilt, an die antike, von Epikurs Philosophie geprägte Wahrnehmung der Welt, die sich durch Lukrez (De rerum natura: Über die Natur der Dinge) schon während der Zeit der Renaissance unter den europäischen Gelehrten nach Jahrhunderten des inszenierten Vergessens, wieder ausbreitete, heimlich weitergereicht als eine Art Samizdat, denn das Buch war selbstverständlich schon kurz nach seiner Entdeckung (1417) auf dem Index der von der Kirche verbotenen Bücher gelandet. Die Botschaft von Coccias Metamorphosenbuch könnte wohl, so scheint mir, auch unter uns biologisch interessierten Zeitgenossen alte Gewissheiten erschüttern und sogar einiges Unbehagen auslösen.

Coccia stellt eine Urform der Verwandlung in die Mitte – die der Raupe, jenem schlauchartigen Wesen mit kurzen Beinstümpfen, das nichts als Fressen im Sinn hat, hin zum Schmetterling, jenem leichten, geflügelten Sommervogel, der nur Sex verfolgt. Er zeigt, dass sich da zwei völlig verschiedene Arten (Spezies) ein- und dasselbe Leben teilen. Und dann entwickelt Coccia den Gedanken, dass die Welt voller Varianten einer solchen die Arten übergreifenden Metamorphose ist. Er zählt die Varianten her und beschreibt, wie Geburten, Kokons, Reinkarnationen, Migrationen und Zusammenschlüsse die Grenzen der Spezies systematisch überschreiten. Wahrscheinlich ist er auch von seiner Erfahrung als junger Vater einer vor kurzem geborenen Tochter hingerissen – ihr hat er das Buch gewidmet als seiner „Königin der Metamorphosen“ – und kommt so zu seinem Konzept der menschlichen Geburt: Geboren zu sein bewirkt, dass wir das Sediment der abgelegten Atome zu einer einmaligen Gestalt menschlichen Wesens umwandeln.

Ich sehe meinen Freund Roger Sharpe wieder vor mir. Er taucht in seinem Biologie-Kurs an der Uni Omaha auf. Seine Studierenden untersuchen ihre eigenen Fingernägel auf Spuren tierischer Vorfahren. „Da“, zeigt er ihnen seinen sichelförmig gekrümmten Daumennagel: „Dinosaurier!“ Mit ihrem Gelächter schlucken sie die ihnen fremde Idee leichter, dass die Chemie unserer Körper dieselbe ist wie die der Organismen, die vor uns gelebt haben. Wir bestehen aus ihrer Substanz. Bei dem Leasing-Unternehmen namens Leben ist Eigentum nicht vorgesehen.

Mir macht es Freude, dass Coccia zur Illustration die hübsche Fabel des vergessenen grossen Aldo Leopold heranzieht: „Odyssey“ erzählt, wie das Atom „X“ von einer Eichenwurzel an die Oberfläche in die Welt der Lebenden aus dem Felsen herausgeholt wird, wo es zeitlose Äone verbracht hat; wie es zum Aufbau einer Blüte beiträgt, aus der eine Eichel wird, die ein Reh frisst, das einen Indianer nährt – all das in einem einzigen Jahr. Als der Indianer seinen Abschied von der Prärie nehmen muss, ist es – nach kurzem Aufenthalt im Boden – das Würzelchen eines Blausterns, das X emporsaugt und in ein Blatt integriert, welches Sonnenlicht einfängt und einen Schatten auf die Eier im Nest eines Regenpfeifers wirft: „Der ekstatische Regenpfeifer hing mit flatternden Flügeln darüber und goss sein Loblied auf eine vollkommen gelungene Sache: Vielleicht die Eier im Nest, vielleicht den Schattenwurf der Blausterne, oder vielleicht den rosafarbenen Hauch von Phlox, der über der Prärie lag.“ (Aldo Leopold: A Sand County Almanac. Oxford University Press: New York 1966, p. 105) Die Geschichte der andauernden Wanderung von X geht in diesem Sinn weiter und läuft in die Veränderung der Lebensbedingungen des Landes hinein, die den Bewohnern der Prärie mit der Ankunft des Weissen Mannes passiert. Inmitten dieser Fabel vom Niedergang des alten, von der Petroleumwirtschaft ruinierten Ökosystems steht ein Satz, den Coccia an mehreren Stellen seines „Metamorphosen“ Buches aufgreift: „Die einzige Gewissheit ist, dass die Kreaturen heftig saugen, schnell leben und oft sterben müssen, damit die Verluste des Lebens nicht seinen Gewinn übersteigen.“ (p. 107) Coccia endet sein Buch „Metamorphosen“ ein wenig pathetisch mit den Worten: „Wir sind die Zukunft. Wir leben schnell. Wir sterben oft.“ (Coccia S. 186)

Was wir „Denkvermögen“, „Intelligenz“ oder als eigene Dimension „Geist“ nennen, ist für Coccia „eine Sache von Atomen, Molekülen, Stofflichkeit“ (S. 167), an der alle lebenden Spezies teilhaben. Vielleicht hilft das Wort „Information“, diese weitere Zumutung probeweise zu akzeptieren: In meinem Garten werde ich andauernd von verschiedenen Singvögeln beobachtet. Sie verfolgen, was ich tue, und erwarten eine neue Wassergabe in der Vogeltränke. Sie zetern, wenn ich ihren Nistplätzen nahe komme, und es ist auffällig, wie manche den Ruf anderer Vögel nachahmen. Aus dem Gemurmel des Starenschwarms, der in den Apfelbaum eingefallen ist, schallt täuschend ähnlich der nachgeahmte Pfiff eines Pirols. Kaum lässt sich ein Falke oder Sperber blicken, nehmen kleine Schwalben seine Verfolgung auf, fallen im Sturzflug auf ihn herab und er weicht mit einer blitzartigen Drehung aus. Meine Nachbarn berichten, dass die Krähen, die sich seit Jahren in Gruppen in unseren Gärten herumtreiben, Kontakt mit ihnen, den Menschen, suchen: Auf die Öffnung in der Mitte des Springbrunnens, dessen Strahl wegen der Dürre abgestellt war, legen die Vögel Steine hin, und an der Stelle, wo sie gefüttert worden sind, hinterlassen sie einen Stock oder etwas, das den Nachbarn als Gegengabe erscheint. – Und so weiter. Es ist leicht, die vielen amüsanten Geschichten, die wir über Hunde und Katzen austauschen, auch auf die so genannten „wilden“ Tiere auszudehnen. Immer geht es dabei um den wechselseitigen Austausch von Informationen. Es ist wahrscheinlich schwierig, von diesem dünn und fadenscheinig wirkenden wechselseitigen Interesse und den damit verbundenen Kommunikationsversuchen auf den grandiosen Begriff „Geist“ zu kommen, aber es ist auch nicht ausgeschlossen.

Coccia formuliert einen Satz, in dem mir das Echo des deutschen Idealismus anzuklingen scheint: „Die Biologie ist somit eine Phänomenologie des kosmischen Geistes.“ Aber er erklärt die Aussage durch Verweis auf handfeste Zusammenhänge: Intellekt ist kein Organ und kein Ding, sondern Beziehung: „Er existiert nicht in unserem Körper, sondern in der Beziehung, die unser Körper zu vielen anderen Körpern herstellt.“ (S. 169) Man muss den Intellekt als etwas denken, das ausserhalb des Körpers besteht. Und man muss ihn im Grunde stets als eine Beziehung zwischen ganz verschiedenen Spezies verstehen. Die Blüte überlässt der Biene die Aufgabe, über die eigene Spezies zu bestimmen. „In gewisser Weise gibt die Blüte den spezifisch pflanzlichen Geist an den Körper der Biene weiter. Das ist mehr als nur eine Zusammenarbeit. Hier konstituiert sich ein kognitives und spekulatives interspezifisches Organ.“ (S. 170)

Eine Wüsten-Kangururatte (Dipodomys deserti) tritt mitten in der Luft eine Seitenwinder-Klapperschlange fort (Crotalus cerastes) Image credit: Freymiller et al, doi: 10.1093/ biolinnean/blz027. 12. April 2019

Mit Vergnügen habe ich mir den Film ‚Ninja Rats‘ Evade Rattlesnake Attacks/NatGeoWILD mehrfach auf YouTube angeschaut, dessen Aufnahmen ich als weitere Illustration von Intelligenz verstehe. Der Film ist in der nächtlichen Sonora-Wüste mit Hilfe von Infrarotlampen und Hochgeschwindigkeitskameras gedreht worden. Eine Klapperschlange lauert Kängururatten auf und stösst plötzlich blitzschnell zu, aber die Ratte hat das Geräusch des von der Schlange ausgelösten Luftzugs vernommen und reagiert innerhalb von Millisekunden: Sie springt senkrecht in die Höhe und versetzt dem Kopf der Schlange dabei mit ihren langen kräftigen Beinen einen Tritt (ähnlich wie ein Ninja-Krieger), so dass die Schlange einen Moment lang irritiert ist und die Ratte entkommt. Biologen zufolge, die diese Begegnungen in der Wüste studieren, kommen Kängururatten in drei Vierteln aller Fälle mit dem Leben davon. Ratten, die sich zu wehren verstehen, zeigen gleichzeitig, wie ihre Spezies ihr Verhalten als Antwort auf die Feinheiten der Bewegungen des Schlangentiers künftig weiter entwickeln wird.

– Man ist versucht, die Kombination aus dem ausserordentlich feinen Hörvermögen und blitzartiger Kampfsport-Reaktion einer Art „Intelligenz des Körpers“ zuzuschreiben, ähnlich wie das unsere Bewunderung auslösende halsbrecherisch erscheinende Hochgeschwindigkeits-Herumjachtern der Mauersegler am Sommerhimmel, das oft von lustvoll anmutendem Kreischen begleitet ist. Mir scheint ein solches sprachliches Dingfest-Machen (mit der Formulierung „Intelligenz des Körpers“) ein wenig grobschlächtig. Führt uns nicht die sprachliche Tendenz, aus allem, was des Weges kommt, ein Substantiv zu bilden, bisweilen in eine Sackgasse? „Intelligenz“ und „Intellekt“ verkörpern als „Vermögen“ eine Art Besitz, Objekt, Werkzeug, – jedenfalls etwas, das hier nicht genau das trifft, was zu beobachten ist. Was wir verfolgen, spielt sich auf derart komplexe, facettenreiche und elegante Weise ab, dass man ein Tätigkeitswort oder Verb herbeiwünscht, um es angemessener zu fassen.

Coccia präsentiert das Ding namens Geist als Beziehung zwischen unterschiedlichen Spezies: So, wie die Biene lernt, die Gestalt einer Blume zu begreifen und damit umzugehen, begreift die Kängururatte die Klapperschlange, und umgekehrt die Klapperschlange ihrerseits die Kängururatte. Und die Mauersegler? Vielleicht finden sie ihr Gegenüber in der Luft, dieser von den Pflanzen für atmende Lebewesen hergerichteten Umwelt.

Coccia selbst beschreibt die Summe all dieser Zusammenspiele aufs schönste:

„Fische, Pflanzen, Vögel, Bakterien, Viren, Pilze, Pferde – egal ob riesig oder winzig, ob aus dem Tier- oder dem Pflanzenreich: Alle Lebewesen sind Geist, aber nicht nur für sich selbst (denkend, empfindsam, entscheidungsfähig), sondern auch der Geist der anderen Spezies. Alle Lebewesen vermögen ihre Umgebung und die der anderen Spezies willentlich zu verändern, beliebige interspezifische Beziehungen zu knüpfen, die nicht zwangsläufig auf irgendeinen Nutzen ausgerichtet sein müssen, und auch die Bestimmung anderer Spezies zu ändern. Die Welt ist, aus diesem Blickwinkel betrachtet, das sich stetig wandelnde Resultat der universellen und kosmischen Intelligenz und Empfindsamkeit der unendlich vielen Lebensformen.“ (S. 173)

Diese Sicht Coccias – der die Bedeutung der jüngsten Erkenntnisse der biologischen Forschung als Naturwissenschaftler und Philosoph formuliert – ist jenem alten Weltbild verbunden, das in allen Lebewesen eigene Personwürde und geistige Verwandtschaft findet. Coccia spricht die Philosophie Epikurs direkt an (wie sie in Lukrez` Schrift De rerum natura formuliert ist), erwähnt aber die uralten schamanistischen und totemistischen Praktiken nicht, die in vielerlei Mustern weltweit verbreitet waren und noch verbreitet sind. Erst gegen Ende seines Textes führt er das Wort „Totemismus“ an: Entgegen dem, „was wir jahrhundertelang geglaubt und wiederholt haben“, sei alle Wissenschaft „eine Form des Totemismus“. Beobachtung ist Quelle allen Wissens, aller Erkenntnis. Dabei erkennen wir uns im Spiegel der Tiere selbst. „Wenn wir entdecken, dass ein Teil unseres Lebens mit dem Leben der Nicht-Menschen identisch ist, können wir menschliche Züge an ihnen erkennen; umgekehrt erkennen wir auch immer dann, wenn wir einer Pflanze oder einem Tier einen menschlichen Zug zuschreiben, dass es etwas in uns gibt, das von nicht rein menschlicher Natur ist.“ (S. 182)

Sätze wie diese laden die Stimmen der Ureinwohner und der alten Heiden ein, an unserem Gespräch teilzunehmen und unsere Politik mit zu bestimmen: Ein Willkommen den Maskentänzern!

Neue Techniken öffnen neue Ansichten der Natur

Als Galileo im Jahr 1609 durch sein selbstgebautes Teleskop in den Nachthimmel schaute – erst sein technisch verbesserter Nachbau der holländischen Erfindung brachte die zwanzigfache Vergrösserung, die gewissermassen den Vorhang öffnen konnte -, erblickte er Einzelheiten, die vorher noch kein Mensch gesehen hatte. Die Milchstrasse, so stellte sich heraus, war gar kein Nebel, sondern entpuppte sich als Masse einzelner Sterne, und der Mond war keine vollkommen glatte Kugel, sondern eine eigene Welt mit Gebirgszügen und Kratern. Galileo zeichnete die Oberfläche bei verschiedenen Mondphasen und veröffentlichte die Bilder 1610 in einem Buch mit dem Titel „Siderus Nuntius“ – „Botschafter der Sterne“ oder „Sternenbote“. Darin erklärte er auch, wie ein gutes Teleskop zu bauen sei.

Galileo Galilei, Nuntius Siderus. 2. Auflage London, 1653, (Ersterscheinungsdatum 1610), Zentralbibliothek Zürich, Bildnachweis: Zentralbibliothek Zürich

Wahrscheinlich kann man die immer genauere Kenntnis der Natur auf sämtlichen Gebieten der Naturwissenschaft als eine Funktion von Instrumenten beschreiben, deren Entwicklung darauf hinausläuft, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Interessant ist dabei, so scheint mir, das offensichtliche Zusammenspiel von Kunst und Wissenschaft. Galileos Mondkarten können, wie jede Kartenzeichnung, auch als Kunstwerke betrachtet werden. Eine offene Frage ist, ob das, was in der Wissenschaft als Erkenntnisfortschritt gilt, auch über den Weg der Kunst erreicht werden kann. Und noch interessanter scheint mir die Frage, welche Rückwirkungen die neu vermittelten Ansichten der Natur auf unser Weltbild haben: Tragen die neuen Ansichten dazu bei, die Kluft zu anderen Lebewesen zu überbrücken, Grenzen gegenüber den Dingen zu verwischen, und die selbst verschuldete Isolation der Menschen abzubauen?

Ich greife drei Darstellungs-Methoden und die damit vermachten drei Ansichten aus einer kaum überschaubaren Menge heraus, und lade dazu ein, an den drei Beispielen jeweils Prozess und Produkt kennen zu lernen, und auch dazu, über die beiden eben genannten Fragen mit nachzudenken.

A. Lackabzüge von Bodenprofilen Irgendwann in den Siebzigerjahren war ich in London zufällig in eine Ausstellung von Bildern geraten, die nach der Lackabzugs-Methode von Bodenprofilen genommen waren., -manche so breit und hoch, dass sie im Museum eine ganze Wand abdeckten. Die Farben der Bodenschichten schienen aus der Tiefe der Bilder hervorzuleuchten, die Muster waren ganz naturgetreu und trotzdem kühn und abstrakt, wie von einem genialen Maler entworfen, dabei aber unglaublich detailreich. Wenn ich nah herantrat, sah ich jedes einzelne Sandkorn. Eines der Bilder ist mir in Erinnerung geblieben: Über einem Fundament von hellen und dunklen Wellenschichten lagerten Horizonte verschiedener Rot-Töne. Ich stellte mir damals vor, welch grandiose Wirkung von diesem Bild anstelle der Bücherwand in meiner Wohnung ausgehen würde: Es müsste die Atmosphäre des Raumes magisch verwandeln. (Im Rückblick zähle ich jenen Lackabzug mit dem Ausschnitt vom roten Erdreich heute zu den Dingen, die ich einmal unbedingt habe haben wollen, aber trotz aller Heftigkeit meines Wünschens nicht gekriegt habe. Die meisten deswegen nicht, weil ich sie im Lauf der Zeit aus dem Blick verlor – es gab zu viel anderes zu tun.)

Jetzt finden wir bei unseren Wanderungen drüben auf dem Mecklenburgischen Elbufer, in der Tongrube Rüterberg, am Rundweg um den Tongruben-See ein Schutzdach und darunter den 3 x 1,5 Meter grossen Lackabzug, direkt vor der Böschung mit dem Bodenaufschluss, von dem der Abzug stammt (53°9’N, 11°11’O). Im Jahr 2019 gefertigt, hält er den Zustand von damals fest. Während Niederschlag und Wind die Oberfläche der Böschung verwittern, artikuliert der Lackabzug in schöner Lesbarkeit den einstigen Anblick des frischen Aufschlusses.

Lackabzug am Informationsstand in der Grube Rüterberg: Über einer Schicht von Sand und Schotter eine Schluffschicht (Feinsand-Ton) mit Tropfenspuren, die an der alten Permafrostgrenze breit aufgelaufen sind.

Zu sehen ist ein „Tropfenboden“ mit massiven dunklen Spuren eines Schluff-Breis, der zur Sommerzeit, wenn die Permafrostböden ein paar Handbreit weit auftauen, in die darunter liegenden Sande bis zur Frostgrenze herabsickerte und dort zu breiten Pfropfen auseinanderlief. Die Spuren stammen aus der Elster-Saale Zwischeneiszeit (vor 425 000 bis 330 000 Jahren: Aus jenem Zeitraum stammen übrigens auch die berühmten Speere von Schöningen, deren Perfektion und Ausgewogenheit von Fachleuten bewundert wird – den Neanderthaler-Menschen, die sie angefertigt haben, hätte keiner diese Kunstfertigkeit zugetraut).

Ausschnitt des Lackabzugs am „Nationalen Geotop“ Tongrube Rüterberg

Der Lackabzug ist mit einer Kunststoffplatte abgedeckt, die es schwierig macht, ein Abbild ohne Spiegelungen aufzunehmen. Aber der Ausschnitt des gleichen Bildes oben ist fast spiegelfrei gelungen. Er zeigt vor allem Sand- und Kiesschichten, die bogenförmig abgelagert sind. Die charakteristischen Tropfen sind hier nur als wenige senkrechte Spuren erfasst. Und der Lackabzug selbst ist seitenverkehrt, wie es seine Anfertigung erzwingt. Diese ist hilfreich folgendermassen auf der Informationstafel beschrieben, die vom „Förderverein Naturschutz Elbetal“ neben dem grossen Bild aufgebaut wurde:

WIE WIRD EIN LACKABZUG HERGESTELLT? Nach Freilegen, Säubern und Glätten wird die fast senkrechte Bodenwand mehrfach mit einer Lösung aus hochwirksamem Klebstoff in Aceton besprüht. Diese Lösung dringt mehrere Millimeter in den Boden ein und verklebt die Bodenpartikel. Wenn das Aceton verdunstet ist, wird eine Kunststoffgaze mit einer kleinen Maschenweite sorgfältig an die Bodenwand gedrückt, diese wieder mehrmals mit der Klebstofflösung besprüht und das restlose Verdunsten des Lösungsmittels abgewartet. Dann zieht man die Gaze mit den auf ihrer Rückseite angeklebten Bodenstrukturen von der Bodenwand ab und klebt sie auf eine Holzplatte. Der Lackabzug gibt die Bodenstrukturen genau und in natürlicher Größe wieder – mit einer Ausnahme: er ist seitenverkehrt, weil man ja die Rückseite des Abzugs betrachtet.

Im Internet lese ich, dass diese Abbildungs- und Übertragungs-Technik um 1930 von dem Geologen Ehrhard Vogt erfunden worden ist, und dass der grösste Lackabzug 12 x 8 Meter misst und das Profil des Sandbodens im Elsbachtal bei Garzweiler zu Zeiten der Neanderthaler zeigt. Es ist von Ulrich Lieven und Jürgen Bläser aus 96 Kacheln zusammengesetzt worden. Lieven pflegt eine interessante Webseite – http://www.geo-lieven.com – mit vielen schönen selbstgefertigten Lackabzug-Beispielen. Ich kann nicht widerstehen, wenigstens zwei davon herauszugreifen und hier zu präsentieren.

„Dokumentiert wurden feinkörnige Sande des Frimmersdorfer Sandes. Am Rande des Jackerather Horstes gelangten helle Meeressande zu Ablagerung, die durch stark humushaltige Sande überdeckt wurden. Durch eine plötzliche, lokal sehr begrenzte Wassereinspülung wurde der gesamte Schichtenkomplex verwirbelt und grob durchmischt. Die Schichtenfolge gehört der Hauptflöz-Gruppe der Ville-Schichten des unteren Miozän an und ist etwa 15 Millionen Jahre alt.“ (U. Lieven (www.geo-lieven.lackabzüge)
„Dokumentiert wurden feinkörnige Sande des Frimmersdorfer Sandes. Am Rande des Jackerather Horstes kam es bereits im Miozän zu einer Schweregleitung. Hierbei wurden Schluffe, Feinsande und kohlige Humusbänder in Sedimente mit grauen Schüsselstrukturen eingedrückt und in kleine Bruchschollen zerlegt. Die Schichtenfolge gehört der Hauptflöz-Gruppe der Ville-Schichten des unteren Miozän an und ist etwa 15 Millionen Jahre alt.“ (U. Lieven (www.geo-lieven.lackabzüge)

Interessant, die jeweils präsentierten Zeiten zu vergleichen: Rüterberg 300 Tausend Jahre , Frimmersdorf 15 Millionen Jahre. Man begreift die enorme Spannbreite der Anwendung dieser Technik. Prinzipiell liessen sich auch von Mond- und Marsböden Lackabzüge nehmen. Noch interessanter erscheint mir die Verschränkung von Kunst und Wissenschaft, die wahrscheinlich für alle Darstellungen der Natur gilt, sich aber hier besonders heftig aufdrängt. Ulrich Lieven hat den Text zu beiden Beispielbildern entsprechend dem geologischen Jargon formuliert, betont aber selbst auch den ästhetischen Anspruch. Das belegen die Titel, die er einigen seiner Lackabzüge gab: „Schlafender Drache“, „Dünenlandschaft“, „Wintersturm“, “ Wohngemeinschaft“.

Das Bodenprofil, wie es in Sandgruben und an Baustellen manchmal zutage tritt, wird von Geologen in gelungener Doppeldeutigkeit „Aufschluss“ genannt: Der verschlossene Erdboden bietet da einen seltenen Anblick, und er gestattet Aufschluss über seine Beschaffenheit. Der Lackabzug ist zuerst ein Mittel zum Studium und zum Erkenntnis-Gewinn, aber er ist auch ein Kunstwerk mit eigenem Anspruch. Er hält den flüchtigen Aufschluss nicht nur als Datum und Beleg fest, sondern führt auch die verborgene Schönheit des Erdinnern vor Augen. Sicherlich nur eine von zehntausend Facetten der Schönheit der Welt. Manchmal scheint es mir, dass jede wissenschaftliche Darstellung der Natur sozusagen nolens volens auch ein Kunstwerk ist. (Womöglich überschneiden die Kategorien einander, so dass man nach der Abgrenzung des jeweils eigenen Territoriums vom andern zu suchen beginnt.) Weniger weit hergeholt hört sich dies an, wenn die Idee der Schönheit von Kunst und Welt nicht ans Gute (Harmonische, Positive, Konstruktive, ethisch und moralisch Vorbildhafte usw.) gebunden ist. Die folgenden Beispiele neuer Abbildungstechniken werfen, so hoffe ich, ein Licht auf diese Fragen.

B. Röntgenaufnahmen von Pflanzen und Tieren Die Zeitschrift „Orion“ liefert vier Mal im Jahr die raffiniertesten und subtilsten Texte und die ästhetisch anspruchsvollsten Bilder zu unserem Verhältnis zur Natur. Dies Magazin kommt, obwohl es in den USA erscheint, ganz ohne Werbung aus, und das seit vierzig Jahren. (Ausgenommen selbstverständlich die unbezahlte Werbung für das Magazin selbst, wie ich sie hier treibe.) Die Frühjahrsausgabe 2022 ist dem Krankenhaus als „Restaurativem Ökosystem“ gewidmet, und das Titelbild zeigt die Röntgenaufnahme eines Arrangements mit Chamäleon und blühendem Geissblatt.

Titelbild der Zeitschrift „Orion“, Ausgabe Frühling 2022

Beim Herumblättern finde ich Fotos ähnlicher Zusammenstellungen von Blässhuhn und Iris, Maus und Physalis, Fröschen und Zwergpalme, Waran und Pythonschlange inmitten einer exotischen Medinilla-Pflanze (Medinilla magnifica), und eine Libelle, die über einer Laternenlilie schwebt. Der Fotograf, so lese ich, ist Arie van’t Riet, ein niederländischer Röntgenologe, der Pflanzen und Tiere zu „Bioramen“ zusammenstellt, mit der Röntgenkamera aufnimmt und mit Hilfe von Photoshop teilweise koloriert. Das Buch mit seinen Bildern ist unter dem Namen des Textschreibers Jan Paul Schutten und dem Titel „Inside In: X-rays of Nature’s Hidden World“ 2021 bei Greystone Kids erschienen. Und tatsächlich wird es als Kinderbuch beworben: „Ein perfektes Buch fürs Natur-Lernen: „Kinder von 8 – 12 werden die unheimlichen Röntgenbilder von Käfern, Reptilien, Säugetieren und anderen lieben! … Dies fesselnde und höchst ungewöhnliche Buch ist perfekt geeignet, um Kinder in Quarantäne und beim Online-Lernen bei der Sache zu halten.“

Im Vorwort schreibt Schutten: „Schaut euch die Bilder genau an, denn hier habt ihr die Gelegenheit zu sehen, was normalerweise verborgen ist.“ (S. 5)

Zwei Schleiereulen. Röntgenfoto arrangiert und aufgenommen von Arie van’t Riet („Inside In“, p. 83)

Ohne ihr Gefieder kaum als Schleiereulen zu erkennen, geben die beiden Skeletts Einblick in die Körperhaltung, das Anlegen der Flügel, den umschliessenden Griff der Klauen am Ast, den enorm grossen Schnabel der Greife und Eulen. Trotz des Halloween-nahen Sujets erscheinen mir diese Eulen-Gerippe nicht als Unheil-Bringer, vielleicht, weil wir sie eher als Kumpel oder Gefährten oder Mutter und Tochter wahrnehmen. Wir neigen dazu, sie zu vermenschlichen, was dem biologisch geschulten Betrachter zuwider ist, aber immerhin doch der Idee einer von uns allen, die wir hier leben, gemeinsam besiedelten Welt entspricht. Mit dem Wort „Conati“ hat der Philosoph Baruch Spinoza dies Verwandtschaftsverhältnis bezeichnet.

Totenkopfäffchen, Röntgenfoto arrangiert und aufgenommen von Arie van’t Riet („§Inside In“ p. 122)

Faszinierend, die Fische, die Libellen, Mäuse und Hasen und Füchse, die Fledermäuse und Enten und Häher und Eulen in ihrer Durchsichtigkeit genau zu studieren. Wir sehen die Vielfalt der Formen, den Erfindungsreichtum der Evolution, wenn man will, und vielleicht geht es auch manchen kindlichen Betrachtern wie mir, wenn ich im Totenkopfäffchen eine Art Memento mori finde: Der Ähnlichkeit mit dem Skelett und dem Kopf unserer Körper ist ja (trotz des langen Schwanzes des Äffchens) kaum auszuweichen. Die Röntgenaufnahmen entlarven die Gleichartigkeit der Substanz der Lebewesen, das organische Material von Knochen und Knorpel, Muskeln und Zähnen, und sie machen den unterschiedlich akzentuierten Aufbau jedes Knochengerüsts als Variante eines allen zugrundeliegenden ähnlichen Bauplans erkennbar. Spielen wir – dem Vorschlag des Verlages entsprechend – das pädagogische Spiel ein wenig mit: Ich stelle mir vor, die Serie dieser Röntgenfotos zu ergänzen um Aufnahmen von menschlichen Skeletts, wie sie beispielsweise im Medizinstudium eingesetzt werden. Bei der Diskussion von Unterschieden und Ähnlichkeiten käme wohl die Ähnlichkeit aller Knochen-Lebewesen heraus. Möglicherweise ein Punkt, um den Begriff „Evolution“ (im Sinne Darwins) einzuspielen und den zugrunde liegenden Gedanken, dass wir „Vertebraten“ (Tiere mit Rückgrat) offensichtlich alle irgendwie miteinander mehr oder weniger weitläufig verwandt sind. Das wäre zwar kein Gegenbeweis, der widerlegen würde, dass wir Menschen nicht doch als „Krone der Schöpfung“ etwas ganz Besonderes und Abgesondertes sind, aber doch ein Indiz für die prinzipielle Verbundenheit der Spezies, was die organischen Substanz angeht. Von dort her könnte die Bereitschaft zu weiteren Vergleichen zunehmen. Wie wäre es mit einer Liste derjenigen Fähigkeiten von Tieren, über die wir nicht verfügen? Später im Lehrplan knöpfen wir uns dann die grossen Wörter vor, die für unsereinen gelten – Geist, Intelligenz, Glaube, Liebe, Hoffnung, Personwürde usw. – und untersuchen, wie weit dies auch alles für Nichtmenschen gilt.

C. Strahlen-Herbarium und Foto-Galerie atmosphärischer Partikeltransporte So weit ich sehe, ist diese Methoden-Kombination Sache einer einzigen Künstlerin: Anais Tondeur (Paris). Sie verfolgt die politisch motivierte Absicht, die „unsichtbaren Feinde“ des Lebens sichtbar zu machen. Nach der Nuklear-Katastrophe von Tschernobyl führt sie die todbringende Strahlung anhand der Spuren im Gewebe der stigmatisierten Pflanzen vor Augen. Im Herbarium der Pflanzen aus dem Sperrbezirk macht sie die unheilbringende Substanz selbst sichtbar. Ihr „Tschernobyl Herbarium“ enthält 33 Fotogramme von Kräutern, offenbar durch die Strahlung direkt auf die Oberfläche von photosensitivem Hadernpapier abgebildet. Die Strahlungsstärke ist durchgehend mit 1,7 Mikrosievert pro Stunde angegeben.

Aufnahme eines Storchschnabels (Geranium) auf Hadernpapier, 2011-2016 Sperrgebiet Tschernobyl, Ukraine. Strahlungsstärke 1,7 Microsievert/h aus „The Chernobyl Herbarium. Fragments of an Exploded Consciousness“ (Michael Marder ) London: Open Humanities Press 2016, S. 21 Foto: Anaïs Tondeur

In einem kurzen Statement am Ende des Herbariums erklärt Anais Tondeur ihr Motiv und ihre Methode: „Als ich ein Kind war, glaubte ich, dass Kriege den Boden unfruchtbar machen. Ich hatte die Schlachtfelder der Golfkriege vor Augen, wo keine Pflanzen wuchsen. Im genauen Gegensatz dazu zeigt die 30 Kilometer breite Sperrzone von Tschernobyl einen Boden, auf dem die Vegetation nicht sterben kann. Im Augenblick des Unfalls gebannt, steht das Land still, fixiert wie auf einem fotografierten Bild. Die Bäume werden nicht mehr zersetzt. Die Silhouetten der Pflanzen bleiben unverändert. Cäsium 137 wirkt. Die Mutation geschieht im Innern. Biogenetische Untersuchungen an Feldfrüchten, die im Schatten des Atomkraftwerks angebaut wurden, belegen subtile Veränderungen, die dem blossen Auge unzugänglich sind. Die Kernzellen der Pflanzen haben eine Verwandlung vollzogen. Es überrascht nicht, dass die hohen Strahlungsdosen ausgesetzte ukrainische Bevölkerung von einem unsichtbaren Feind spricht. Mich hat es angezogen, die von der Tschernobyl-Explosion verursachten Stigmata der Pflanzen mit den Werkzeugen der frühen Photographie zu erkunden, und so habe ich ihre Umrisse auf photosensitivem Papier festgehalten. Es ging mir dabei nicht darum, den Anfang einer Apokalypse zu zeigen, sondern das Ende einer Ära zu befragen. Könnten diese Bilder, diese Photogramme oder Rayogramme uns dabei helfen – angesichts der Pflanzenkörper – über die nukleare Katastrophe im etymologischen Sinn des Worts Katastrophe als Umbruch nachzudenken?“ („The Chernobyl Herbarium“, p.73, übers. H.S.)

Ich blättere von Bild zu Bild, und durchschreite so die Galerie von Rayogrammen. Storchenschnabel und Beifuss und Leinkraut sind nicht immer leicht zu bestimmen, manche erscheinen lädiert, manchmal sind sie durch weisse Flecken überblendet oder verzerrt. Man vermutet das Einfallen einer geballten Strahlungsdosis. Die Bilder wirken gespenstisch.

Radioaktive Strahlung vor Augen zu führen, ist ein schwieriges Unternehmen. Ich erinnere die Transporte von Atomabfällen, die über Jahre hin hier im Wendland vor meinem Haus in Gestalt eines verrückten Umzugs vorüberfuhren. Umschmolzen von Glas, von Blei ummantelt und in Spezialbehälter (sog. Castoren) untergebracht, war die Strahlung zwar immer noch messbar und als Zahl ablesbar von Geigerzählern, blieb aber doch unsichtbar und abstrakt. So lange, bis ich die Luft über den Castoren flimmern sah: Eine sichtbare Spur der Strahlung, endlich etwas sozusagen Greifbares! Da lag der Grund für die vielen Polizeitruppen in Kampfausrüstung – mit Schlagstock und Schild und Helm ähnelten sie römischen Gladiatoren -, die überall blockierten, kontrollierten, neben den Tiefladern im Laufschritt liefen. Und da war der Grund für den Widerstand der Bevölkerung. Das Flimmern der Luft bildete keineswegs die radioaktive Strahlung ab, sondern die durch die Strahlung verursachte Erhitzung. Aber es war ein sichtbarer Effekt, und der stellte gewissermassen den Zusammenhang mit der Erfahrungswelt her, in der wir zu leben gewohnt waren.

Steifer Lein (Linum strictum) Rayogramm
Anais Tondeur in Chernobyl Herbarium

Informiert durch Wissenschaft, motiviert von der Absicht der Bewusstseinsbildung, zeigt Anais Tondeur eine Galerie von Kunstwerken, die eine Facette des unsichtbaren Unheils, das die moderne Lebenswelt mit sich bringt, vor Augen führt und ins Bewusstsein hebt.

Eine weitere Facette, die einen ganz anderen Sachzusammenhang, aber ein vergleichbares Muster betrifft, hat sie sich Ende Mai 2017 vorgenommen: Die Flut winziger Teilchen – Partikel von weniger als 2,5 mikro (µ) Grösse – z.B. von Kohlenstoff (Feinstaub-Russ) in der Atmosphäre, die beim Atmen in unsere Lungen eindringen, oft mit fatalen Folgen für unsere Gesundheit. Auch dies (wie die radioaktive Strahlung) eine unsichtbare Bedrohung, durch Industrie – anthropogen – verursacht. Auf Fair Isle, einer Insel nördlich Schottland, leiden Menschen unter Atembeschwerden, obwohl es dort keine Industrie mit Kohlenstoffemissionen gibt. Die Kohlenstoff-Partikel erreichen diese ferne Insel als Schwebstoffe in der Atemluft. Tandeur begann hier mit ihrem Projekt, das sie über 20 Stationen bis nach Folkestone im Süden Englands führte. Jeden Tag fotografierte sie den Himmel und sandte ihre GPS Daten an die Physiker ihres Team. Ihnen schickte sie auch jeden Abend ihre Atemmaske, und das Team extrahierte aus dem Stoff die winzigen Russpartikel und verarbeitete sie zu einer Tinte. Zum Einfärben der Fotos des Tages verwandte Tondeur später die Tinte des Tages, so dass die unsichtbare Teilchenfracht der Luft auf den Fotos in der Schwärze des Himmels sichtbar wird. Tondeur folgte dem Verlauf einer Strecke, die von den Physikern je nach Richtung und Masse der Teilchenfracht (mit aus anderen Quellen verfügbaren Daten) Tag für Tag neu berechnet wurde.

Fair Isle Leuchtturm, 23.05.2017, Carbon Black Level (PM2.5): 2,1 µg/m³, Carbon ink print, 100x150c

Zwei Bilder aus der Galerie (Die Auswahl ist schwer: Eins erscheint immer eindrucksvoller als das andere.) Ihre Wirkung liegt ganz an den aussergewöhnlichen Ansichten der Himmel, die sie präsentieren. Diese nehmen jeweils den allergrössten Teil des Bildes ein. Den Leuchtturm von Fair Isle (am unteren Rand) finden wir erst beim genaueren Lesen. Diese Himmel vermitteln eine unheilvolle Dimension, die wir so noch nicht kennen. Anders als Sturmwolken, Tornados und Blitz und Donner bringen die Wolken eine schwer zu fassende aber sichtbar neuartige Bedrohung mit sich. Wir lernen, dass es schwarzer Kohlenstoff ist, der in unser Lungengewebe eindringt und uns bedroht, so dass wir zu Bioindikatoren werden, deren Leiden mit der bedrohlichen Fracht der Wolken korrespondiert.

Newcastle-upon-Tyne, 3 June 2017, Carbon Black Level (PM2.5): 6,21 μg/m³, Carbon ink print 100x150cm

Auch hier – wie in Tschernobyl – stellt Anais Tondeur die neue verborgene Dimension von Dingen heraus, mit denen wir Menschen seit alters umgehen. Wir glauben, sie lesen zu können, und haben Namen für ihre Brauchbarkeit wie für ihre Gefahren. Die Pflanzen: ihr Geschmack, ihr ästhetischer Anblick, ihre medizinische oder giftige Wirkung. Und der Himmel mit seinen Regen oder Sturm verheissenden Wolken, seinem tiefen Leuchten, seinem weiten freien Blickfeld. Aber die radioaktiv verseuchten Pflanzen in Tschernobyl, und der Kohlenstoff befrachtete Himmel mit seinen unheilträchtigen Wolken über den Landschaften Schottlands und Englands sind Beispiele für eine Welt, die ihre Unschuld verloren hat. Zugleich mit dieser allgegenwärtigen Bedrohlichkeit der Dinge entlarvt die Künstlerin die Naivität unseres Blicks. Das Programm, die unsichtbaren Gefahren der Welt sichtbar zu machen, ist ein politischer Weckruf: Wacht auf! Kämpft für die Bewohnbarkeit der Erde!

Kommentare und Feuilleton-Artikel zu Tondeurs Ausstellungen versuchen, das Neue der von ihr ins Spiel gebrachten Bilder zu bestimmen. Die gewohnte Ansicht vom Naturschönen und von dem (nach Kant) „Erhabenen“ („Sublimen“) der Natur sei gewissermassen nicht länger haltbar. Tatsächlich ist die Schönheit der Wildkräuter vielfach kontaminiert – Tschernobyl ist ja nur eine Facette, – Herbizide, Fungizide, Pestizide, Gülle, aber auch Asphalt und Teer bedrohen ihre Erde, und der Himmel selbst, unnahbar fern, dem wir in einer Verbindung aus Faszination und Schrecken („Ehrfurcht“) begegneten, ist uns unangenehm nahe auf den Leib gerückt, gewissermassen als politischer Gegenstand.

Tondeur selbst kommentiert, dass es ihr nicht um die Desillusionierung geht, sondern darum, unsere Beziehung zum Anderen neu zu bilden, – gleich, ob dies Andere von menschlicher Gestalt ist oder nicht („transformer notre relation à l’autre, humain ou non“). Es ist paradox: Die Umbildung unserer gewohnten Ansichten der Natur entfernt uns nicht voneinander, sondern bringt uns näher zusammen. Verletzung und Stigmatisierung des Naturschönen bringt eine Saite unserer Liebe zur Natur zum Schwingen, die dies Verhältnis vom Kontemplativen zum Aktiv-politischen verändert. In die Ehrfurcht vor dem Himmel über uns mischt sich unser Eigeninteresse: Wir lernen, ihn als Agenten im Zusammenspiel des Ganzen wahrzunehmen, und untersuchen die Luftfracht, die er über uns bringt. Anstelle des Abbilds der Ewigkeit erweist er sich als wandel- und manipulierbar, und wir fangen gewissermassen an, ihn zu duzen. Auf diese Weise äussert sich eine Fortführung des Verwandtschaftsgedankens, der uns mit Pflanzen und Tieren verbindet. Wir kommen einer Ansicht der Welt ein Schrittchen näher, in der Menschen und Lebewesen und Dinge gemeinsam in ein Gewebe aus Geist und Materie verwoben sind.

Sieben Generationen. Wie weit reicht unser Einfluss?

Im letzten Kapitel ihres weltumspannenden Buches „Timefulness. How Thinking like a Geologist Can Help Save the World“ zitiert Marcia Bjornerud Gedanken und Vorschläge zur Überwindung der falschen Zeitvorstellungen, die uns in unserer Zeit – in der erdgeschichtlichen Phase des Anthropozän – beherrschen. Sie selbst folgt mit ihrem Buch der Idee, dass wir durch das Studium der Erdgeschichte Zeiträume betreten, die nur auf den ersten Blick scheinbar endlos sind. Wir können Überschaubarkeit gewinnen und die Entwicklung des Planeten als eine Art „Bildungsroman“ verstehen lernen. Die physischen Rhythmen und Muster der Welt sind ihrerseits im Lauf der Zeit durch den Einfluss von lebenden Organismen gestaltet worden, so dass die Geschichte der Erde mit der des Lebens verflochten erscheint. Bei der neuen Spielart der alten Wechselwirkung, in der unsere hominine Art, in der Welt zu sein, diese Gestalt zerstört, bietet einzig Umkehr eine Chance auf Rettung. Ein Zeitgefühl, das uns selbst einschliesst, könnte dabei helfen, den notwendigen Gesinnungs-Wandel herbeizuführen. Bjornerud nennt diese Variante „Timefulness“. Sie meint damit eine Veränderung unseres Zeitbewusstseins im Sinne des buddhistischen „sati“ – engl. „Mindfulness“, dt. Achtsamkeit“. Das Wort „Zeitbewusstheit“ (auf dem Titel der deutschen Ausgabe) ist der tapfere Versuch der Wiedergabe des auch im Englischen kaum bekannten und womöglich unübersetzbaren „Timefulness“ auf Deutsch. (Marcia Bjornerud: Zeitbewusstheit. Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten. Übersetzung: Dirk Höfer. Berlin: Mattes & Seitz 2020; Engl. Ausgabe: Timefulness. How Thinking Like a Geologist Can Help Save the World. Princeton Univ. Press 2018)

Auf dem Wege zur Timefulness folgt Marcia Bjornerud dem Pfad der wissenschaftlichen Erkenntnis. Sie ist eine grandiose Lehrmeisterin, ich habe beim Lesen ihren Witz, ihre Anspielungen genossen und viel Neues gelernt. Doch trägt sie auch alte Vorschläge in die Erörterung der aktuellen Problematik hinein. Es sei doch nicht ohne Ironie, schreibt sie am Ende ihres Buchs, dass genau jene „Wilden“, deren Weltvorstellungen einst als primitiv abgetan wurden, in Zeiten der Krise zu Wortführern einer umweltgerechten und naturerhaltenden Lebensweise werden. Sie nennt das Beispiel des „Sieben-Generationen-Prinzips“ der Irokesen-Konföderation. Tatsächlich ist die Irokesen-Idee auch im deutschen Sprachraum als eine Art Schlüsselkonzept verbreitet: Wer immer vorausschaut und plant, soll sieben Generationen weit in die Zukunft blicken. Im Internet finde ich zahlreiche Einträge in diesem Sinn, allerdings (und irgendwie passend als Illustration des tatsächlich vorherrschenden durchkommerzialisierten Zustands) durchmischt mit Annoncen für Reinigungsmittel der Firma Unilever unter den Namen „Sieben Generationen“ bzw. „Seventh Generation“.

Ich schaue nach im „Gayanashagowa“, dem Text des Grossen Verbindlichen Gesetzes, das die (mehr als 500 Jahre) alte Verfassung der Irokesen-Konföderation darstellt, die von einigen sog. Gründervätern der USA bewundert wurde. Wie ich bei Gesprächen mit amerikanischen Freunden öfters höre, habe die Irokesen-Verfassung die amerikanische Verfassung stärker beeinflusst als europäische Vorbilder. Im Abschnitt 28 geht es um das Ritual der Einsetzung eines „Lord“ – wieder ein Wort, das wegen seines Kontexts schwierig zu übersetzen ist: „Häuptling“ wäre doof, und „Herr“ bezeichnet in der Sprache der Kolonisatoren ein Verhältnis, das in der Föderation so nie gegeben war. Seis drum. Hier ist am Ende eine Passage, die das „Sieben-Generationen-Prinzip“ anzusprechen scheint, auch wenn da von „sieben“ keine Rede ist. Es ist der letzte Satz des folgenden von mir aus dem Englischen übersetzten 28. Gesetzes-Abschnitts. Ich bitte um Nachsicht für die Wiedergabe des gesamten Abschnitts: Womöglich hätte der letzte Satz genügt. Wahrscheinlich empfinde ich den Text als besonders schön und klar, weil ich seit langem ein Faible für diese „First Nation“ Kultur hege. (Noch immer singe ich – beim Autofahren – laut mit beim „Stomp Dance (Unity)“ der Six Nations Women Singers aus Robbie Robertsons alter (1996) CD „Contact from the Underworld“.)

Irokesen-Konföderation: Herrscher der fünf Irokesen-Nationen (Cayuga, Mohawk, Oneida, Onondanga, Seneca) versammelt beim Dekanawidah etwa 1570. Französischer Stich aus dem frühen 18. Jahrhundert. Im Jahr 1722 wurde die Nation der Tuscarora in die Konföderation aufgenommen, seither: Six Nations. (From Second Annual Report of the Bureau of Ethnology to the Secretary of the Smithsonian Institution, 1880-1881, edited by J.W. Powell, 1883)

28. Soll ein Kandidat als Herr eingesetzt werden, so muss er vier spannenlange Muschel- oder Wampum-Schnüre liefern, die am einen Ende zusammengebunden sind. Sie belegen sein Versprechen gegenüber den Herren der Konföderation, dass er im Sinn der Verfassung des Grossen Friedens leben und bei all seinen Handlungen Gerechtigkeit üben wird. Ist das Versprechen gegeben, so muss der Sprecher des Rats die Muschelschnüre in der Hand halten und die Seite gegenüber dem Ratsfeuer ansprechen. Er beginnt seine Ansprache mit den Worten: „Nun schaut ihn an. Er ist jetzt ein Herr der Konföderaton geworden. Schaut nur, wie prachtvoll er aussieht.“ Darauf folgt die Rede. Am Ende übergibt er das Bündel Muschelschnüre an die gegenüberliegende Seite. Dort werden sie als Erweis der Eidesgeltung aufgenommen. Darauf hin wird die gegenüberliegende Seite sagen: „Wir krönen dich jetzt mit dem heiligen Zeichen des Hirschgeweihs, dem Hoheitszeichen deiner Herrschaft. Die Stärke deiner Haut sei fünf Spannen mächtig – womit gesagt sei, dass du vor Ärger, vor Angriffen und vor Kritik geschützt bist. Dein Herz soll mit Frieden gefüllt sein und voll von gutem Willen, und dein Kopf voll vom Streben nach dem Wohlergehen des Volkes der Konföderation. Mit endloser Geduld wirst du seine Pflichten erfüllen und deine Härte wird wird durch Zärtlichkeit für deine Leute gedämpft werden. Weder Ärger noch Wut sollen sich in deinem Sinn einnisten, und all deine Worte und Taten sollen aus ruhiger Überlegung folgen. Bei all deinen Beiträgen im Rat der Konföderation, bei deinen Mühen um die Gesetzgebung, in all deinen offiziellen Handlungen soll Eigeninteresse vergessen sein. Wirf die Warnungen von Nichten und Neffen nicht über deine Schulter hinter dich, wenn sie dich wegen eines Irrtums oder eines Fehlers schelten sollten, sondern kehre zurück auf den Weg des Grossen Gesetzes, das gerecht ist und richtig. Verfolge und lausche dem Wohlergehen des ganzen Volkes, und halte nicht nur die Gegenwart im Blick, sondern auch die kommenden Generationen, selbst die, deren Gesichter noch unter der Oberfläche des Bodens sind – die Ungeborenen der zukünftigen Nation.“ GAYANASHAGOWA Constitution of the Iroquois Nations The Great Binding Law)

Dafür, dass alle Welt von sieben Generationen redet, die indes in diesem Text so gar nicht vorkommen, bietet Marcia Bjornerud eine interessante Vermutung: Sieben Generationen seiner eigenen Familie sind es, die ein Mensch zu sehen hoffen darf – Urgrosseltern, Grosseltern, Eltern, Geschwister, Kinder, Enkel, Urenkel. (Plausibel in meinen Augen immer noch, obwohl ich meine Urgrosseltern nie gesehen habe, jedoch selber Urgrossvater geworden bin.) Diese Deutung der Siebenzahl verringert allerdings die Zahl der kommenden Generationen mit Anspruch auf meine Weitsicht: Statt sieben hätte ich das Wohlergehen von lediglich drei Nachgeborenen-Wellen im Blick – von Kindern, Enkeln und Urenkeln. Im übrigen als eine Art Balance behielte ich das Leben meiner Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern im Gedächtnis, vielleicht auch als heilsame Erinnerung an die Härten des Schicksals, wie mir scheint. Ich gebe zu, dass mich diese Variante des neuen (von Robert Macfarlane vertretenen) Gebots „Sei ein guter Vorfahr!“ erleichtert: Ich bin nicht mehr unmittelbar zuständig und verantwortlich für ferne Nachfahren, die weiss Gott mit welch monströsen Umständen zu tun haben werden. Aber mit Kindern, Enkeln und vielleicht auch Urenkeln kann ich reden, und ich kann darauf vertrauen, dass mein Verhalten und meine Weltsicht in ihrem Gedächtnis bleiben und womöglich auch in ihrem Verhalten eine Spur hinterlassen werden.

Dass ein eifernder Gott die Missetat der Väter (Anbetung falscher Götter) bis ins dritte und vierte Glied heimsucht (2. Mose 34: 7), erklärte mir Anne Wolfson Wangh bei Gelegenheit eines Gesprächs mit ihrem Mann Martin Wangh, dem bekannten Psychoanaytiker, folgendermassen: Der Fluch Gottes halte über so viele Generationen an, wie Menschen einander sehen und direkt miteinander zu sprechen vermögen. Die physische Präsenz der Menschen entscheide die Dauer des Fluchs. (In unserm Gespräch ging es um die Wirkungen des Holocaust auf die Nachfahren der Täter und der Opfer.) Demzufolge sind Kinder und Kindeskinder der Wirkung mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt, und mit geringerer Wahrscheinlichkeit auch noch die Urenkel, aber die Gegenwart der darauf folgenden Generationen ist vom Fortwirken des Verbrechens frei. Ich frage: Weshalb sollte, was für die Dauer der Busse von Missetaten gilt, nicht auch das Fortwirken von Verhaltensmustern bestimmen, die dem Leben dienen? Unsere gegenwärtige achtsame Lebensweise würde dann nicht nur unseren eigenen Fussabdruck in der Umwelt hinterlassen, sondern auch die Spuren unserer Kinder und Kindeskinder beeinflussen. Drei Generationen könnten wir durch das Beispiel unserer Gegenwart prägen, höchstens drei, weiter reichende Einflüsse wären allenfalls der Vermittlung durch Medien zuzuschreiben, als Predigten oder Influencer-Ansprachen, – Elemente im Angebot für Glasperlenspiele der Phantasie. Der tiefe, intensive Einfluss reicht demgegenüber nicht weiter als ins dritte und vierte Glied. Das muss genügen, um anzukommen.

Marcia Bjornerud 2018 („Wisconsin Life“ Sept. 19, 2018)

Bjorneruds Programm bietet eine Einführung in 4,55 (plusminus 70 Millionen) Milliarden Jahre Erdgeschichte mit dem Anspruch, die unter uns Zeitgenossen verbreitete Neigung zur Zeitvergessenheit zu ersetzen durch das Gefühl, irgendwie zu Hause zu sein in den mächtigen Zeiträumen. Also sich gleichsam in ihnen einzuwohnen als in einem vertrauten Gebäude, so dass der Gang durch die Fluchten, der Säle und Stuben mit ihren Winkeln und Erkern lauter bekannte Passagen bietet. Die Fremdheit der Welt, in der wir leben, soll allmählich ersetzt werden durch ein quasi familiäres Verhältnis: Timefulness. Wir lernen vor allem, dass nichts zeitunabhängig ist: Nichts dauert ewig, alles hat seine Zeit. Wasser zum Beispiel bleibt, bevor es verschwindet, 9 Tage lang in der Atmosphäre, 1-2 Monate im Boden, 2-6 Monate in Flüssen, 1-200 Jahre in Seen, 10-100 Jahre im flachen Grundwasser, 100 – 10000 Jahre im tiefen Grundwasser, 1000 Jahre im Ozean, 100-800000 Jahre in Gletschern, und Millionen von Jahren im Erdmantel. (Appendix IIB „Timefulness“)

Ich erfahre beim Lesen einiges über geologische Methoden der Zeitmessung, das mir neu ist. Manches klingt in den Zusammenfassungen ein wenig „technisch“, ist aber jeweils vorher ausgiebig erklärt, und ergibt ein überaus eindrucksvolles Bild vom wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt auf diesem Gebiet. Als Beleg folgende Passage:

„In den frühen 1970er Jahren hatten Altersbestimmungen für Meeresboden-Proben aus Tiefenbohrungen und die Korrelation der magnetischen Meeresboden-Daten mit den bekannten Daten von vulkanischen Sequenzen an Land einen neuen Weg zur Abgrenzung der geologischen Zeit geschaffen, und die geomagnetische Zeitskala wurde auf die biostratigraphische (Fossilien-basierte) und die geochronologische (Radioisotopen-kalibrierte) gepfropft. Heute, nachdem die Datierung für die Umkehrung jedes Magnetfeldes aufs genaueste eingegrenzt wurde, ist es möglich, das Alter eines Steines von irgendeiner Stelle des Meeresbodens zu bestimmen, ohne überhaupt eine physische Probe zu nehmen – durch einfaches Abzählen der magnetischen Streifen, um die er vom Grat entfernt ist.“ (p. 68, übers. H.S.)

Der offensichtlichste und vielleicht wichtigste Wesenszug der Naturwissenschaft – des naturwissenschaftlichen Verhältnisses zur Welt – ist es, alles zu messen. Die bekannte Maxime Galileos lautet: „Alles messen, was zu messen ist, und alles messbar machen, was nicht zu messen ist!“ Als aufmerksamer Zuhörer meint man, da auch die Verknüpfung zwischen Naturwissenschaft und Naturbeherrschung mit herauszuhören. Kein Zufall, dass Ölmagnaten und Stahlbarone (Rockefeller, Carnegie, Krupp) sich in der Geologie auskannten – so weit, dass sie es schafften, beispielsweise das seltene Eisenerz aufzuspüren, aus dem der beste Stahl produziert werden konnte. Kein Wunder, dass dies Material inzwischen abgebaut und verschwunden ist. Bjornerud erzählt, dass der Stahl „Tycoon“ (und spätere Philanthrop) Carnegie seinerzeit reicher war als Bill Gates, Sam Walton und Warren Buffett zusammen es heute sind, und dass die von Carnegies Unternehmen ausgebeuteten Eisenformationen in der Proterozoischen Ära der Erdgeschichte (zwischen 2,5 und 1,8 Milliarden Jahren) entstanden, als Cyanobakterien zum ersten Mal Sauerstoff in die Umwelt entliessen (was in dieser Anfangsphase zu Eisenstein von besonderer Dichte führte).

Die vielen Passagen ihres Buches, in denen es um Messmethoden und Messungen geht, richtet Bjornerud nicht an Ingenieure und Bergbauunternehmer. „Messen“ ist ihr kein Mittel zur Beherrschung oder zur fortgeführten Ausbeutung der Welt. Sie ermittelt Dauer und Beschaffenheit der Naturräume, um ein Narrativ zu errichten, das in einer Art Gründungsurkunde die Verflechtung des Lebens unserer Spezies mit dem Leben der Erde festhält und damit auch die Grundlage eines Verbundenheitsgefühls herstellt, das man, so scheint mir, „Erdpatriotismus“ oder „Planetenheimat“ nennen könnte.

Die Tätigkeit des Messens wird dabei als eine Art Kommunikation mit der Erde reformuliert: Es geht weniger darum, eine gegebene Grösse – die Mächtigkeit eines Flözes, das Alter eines Steines, die chemische Zusammensetzung eines Minerals – festzustellen, um sie irgendwelchen Zwecken verfügbar zu machen, als um die Ermittlung laufender Prozesse. Die Prozesshaftigkeit der Welt korrespondiert mit dem prozessbezogenen Blick dieser Wissenschaft. Bjornerud bringt es auf die schöne Formel: „Steine sind keine Substantive, sondern Verben – sichtbarer Beweis von Prozessen: einer vulkanischen Eruption, der Ansammlung eines Korallenriffs, dem Anwachsen einer Bergkette.“ (p. 209) Vielleicht ist es nicht übertrieben, hier den Ausgangspunkt für das dialogische Verhältnis zur Erde zu erblicken, das ihre Wissenschaft prägt. In diesem Dialog nimmt die Erde, wie mir scheint, und wie es ja der alarmierenden Lage der Dinge angemessen ist, eine mahnende Position ein. Genauer gesagt, Bjornerud vernimmt das, was die Erde spricht, als Mahnung. Am deutlichsten tritt dies bei einer Anekdote aus der Studienzeit der Verfasserin hervor, in der sie ihre Erfahrung einer Epiphanie beschreibt. Mit anderen Studierenden ist sie auf eigene Faust auf der Halde eines längst aufgelassenen Bergwerks unterwegs.

„Da entdeckten wir das, was Riesenkristall-Fanatiker (eine besondere Subkultur unter den Mineralogen) eine „Edelsteintasche“ nennen. Es war, als ob wir in die pastellfarbene Welt eines altmodischen Super-Ostereis getreten wären: Gigantische Kristalle aus weissem Feldspat waren mit Trauben von purpurfarbenem Glimmer und sechseckigen Prismen von rosa und grünem Turmalin dekoriert. Einige Turmaline waren perfekte Edelstein-Miniaturen von Wassermelonenscheiben mit dünnen grünen Rinden und rötlichen Innenteilen. Wir alle wurden sogleich von einer tiefsitzenden Gier erfasst, dem Zwang, uns so viel von diesen Reichtümern zu nehmen wie wir nur konnten. Wir hatten unsere Steinhämmer mit stumpfen Enden mitgebracht, die zum Zertrümmern von Steinen dienten, aber zum Abschlagen feiner Kristalle nicht geeignet waren. Ich schaffte es, ein paar kleine tiefrosa Turmaline abzubrechen, aber dann erspähte ich den Hauptpreis: Ein perfektes Wassermelonen-farbenes Kristall von 8 Zentimetern Länge. Es sass in einer schwer zugänglichen Ecke nah an der Grubendecke, – kaum Platz, einen Hammer zu schwingen, aber ich war entschlossen und wollte es haben. So schlug ich zu und stellte mir vor, wie ich die Trophäe zu Hause präsentieren würde, als ich sie, mit einem falsch angesetzten Hieb, zertrümmerte. In diesem Augenblick, so schien mir, wurde meine Sicht plötzlich klar, als ob ich einem bösen Bann entkommen sei, der uns beim Betreten der Edelsteintasche erfasst hatte. Mit einem Schlag verlor ich die Lust an diesem Unternehmen. Nach mehreren Jahren des Eintauchens in die Welt der Geologie hatte ich doch schon einen Sinn für Tiefenzeit entwickelt. Und ich erkannte, dass ich in einer Sekunde der Habgier leichtsinnig einen exquisiten Gegenstand zerstört hatte, der den dritten Teil der Geschichte der Erde bezeugte – das Meiste der Milliarde der Langeweile, die Schneeball-Erde, das Erscheinen der Tiere, die Perioden grossen Aussterbens, das Wachsen der Rocky Mountains. Die Szene der Verwüstung um mich herum, und meine Komplizenschaft dabei, machten mich krank.“ (p. 127/128 übers. H.S.)

Wikipedia: „Zonar grün und rot gefärbter Turmalin aus der Aricanga-Mine, São José da Safira im Doce-Tal in Minas Gerais in Brasilien (Größe: 9,5 cm × 4,0 cm × 3,1 cm)“ Rob Lavinsky, iRocks.com – CC-BY-SA-3.0

Das Echo dieser Episode durchschallt gewissermassen die Seiten des Buches. Die Moral dieser Geschichte ist seine Botschaft. Sie widmet den Epilog der auf Svalbard (Spitzbergen) eingerichteten Saatbank: Falls es – infolge menschlicher Hybris oder einer durch die Erde selbst ausgelösten Katastrophe – zum Ausfall der Landwirtschaft kommen sollte, könnte dieser schneebedeckte Hügel in der Arktis „zum Brotkorb der Welt“ werden. Sie endet das Buch mit dem Satz: „Jetzt müssen wir uns als Erwachsene zeigen und selbst navigieren, indem wir mit dem Atlas der Vergangenheit das Beste anfangen, um die lange verlorene Zeit aufzuholen.“ (p. 181, übers. H.S.)

Das Studium der Vergangenheit dient dem Zweck des Erhalts der Zukunft oder, wie es der Untertitel formuliert: „Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten“. Trotz des vorsichtigen „könnte“ (das Original formuliert zuversichtlicher: „How Thinking Like a Geologist Can Help Save the World“) ist es eine ziemlich schwere Last, die uns da als Bürde angetragen wird.

Der Philosoph John Dewey (1859 – 1952) hat daran erinnert, dass wir immer in der Gegenwart leben. Auch wenn wir in Gedanken und Bildern in Vergangenheit und Zukunft unterwegs zu sein scheinen: Streng genommen gibt es keine andere Zeit, in der wir da sind, als die Gegenwart. Wahrscheinlich ergäbe sich ein klareres Bild der Verhältnisse, wenn man diese Phase der tatsächlichen Präsenz herausstellen und einer besonderen Kategorie zuschreiben würde. Es muss ja zu Verwirrungen führen, wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als eine Art Zahlenstrahl betrachtet und als miteinander verrechenbare Grössen behandelt werden. Das gegenwärtige Sein füllt chronographisch nur einen Moment, gewiss. (In einem Kinderbrief fand ich den Satz „Gegenwart ist ein so langes Wort, dass sie schon vorbei ist, bevor es geschrieben ist.“) Aber dieser Moment enthält – im Unterschied zu Vergangenheit und Zukunft – eine Tiefendimension, in der ein dialogisches Verhältnis zum Vorschein kommt, wie es uns weder aus der Vergangenheit erreichen kann noch in zukunftbezogenen Vorstellungen anders als in Gestalt uneingelöster Versprechen aufzutreten vermag. Man vernimmt einen Anspruch, der das eigene Leben ausrichtet und bestimmt. So ist es Marcia Bjornerud in der „Edelsteintasche“ ergangen.

Es ist interessant, dies gegenwartsgebundene aber lebensbestimmende Moment anhand eines weiteren Beispiels zu betrachten. Der vor drei Generationen bekannte Geologe Hans Cloos (1885 – 1951) hat sein Geologenleben in dem Buch „Gespräch mit der Erde“ beschrieben. Der Titel bereits lässt eine Nähe zu Bjorneruds „Timefulness“ vermuten. Auch ihm widerfährt eine Offenbarungs-artige Begegnung, in der er den Anspruch der Erde vernimmt. Als 24jähriger, gerade promovierter Geologe ist er unterwegs für einen Forschungs-Auftrag nach Namibia (damals deutsche Kolonie) und reist mit der Bahn nach Neapel, wo das Schiff nach Afrika ablegen soll. Morgens öffnet er das Hotelfenster und sieht „die ganze Herrlichkeit des berühmten Bildes“.

„Aber nach oben war das Bild abgeschnitten durch eine lastende Wolkenbank. Schon wollte ich mich, halb enttäuscht, ins Zimmer zurückwenden, als mein Blick von einem hellen Schein über den Wolken angezogen wurde: Dort schwebte, frei in der Luft, wie mit der Schere geschnitten, im jungen Weiss des Winterschnees, der dreieckige Gipfel des Vesuvs, und aus seiner vertieften Mitte löste sich ein Wölkchen Rauch —. Also war es doch wahr! Jahre um Jahre hatte ich nichts anderes gelernt und gelesen als dies: Dass unsere alte Erde sich in unzähligen Formen gewandelt habe im Laufe ihrer endlos langen Geschichte. Dass das ganze bunte Angebot der Schichten und Gesteine aus der Vorwelt, der Gebirge unserer Gegenwart nichts anderes sei, als Werk und Erbe, Rest und Geschenk solcher Verwandlungen. Dass die Erde noch heute sich rege und dass jeden Tag, den wir leben, auch sie lebe und immer irgendwo an sich arbeite und überall und immer ihren alten Bestand ergänze und neue Stoffe und Kräfte den alten hinzufüge. Dass es nur eine Täuschung der Augen sei, zu glauben, die Erde sei fest und fertig nur noch im Kleinen und Äusserlichen veränderlich, und sei unerschütterliches Fundament allen menschlichen Planens und Bauens. Ich hatte die Lehre gehört und geglaubt; sie gegen Ungläubige verteidigt und unter argwöhnischen Prüfungen an strenge Richter zurückgegeben. Und nun musste ich in einem unbewachten Augenblick gewahr werden, dass ich nichts gelernt hatte, rein gar nichts; dass mir dies Fundament aller irdischen Weltanschauung nicht zum eigenen inneren Besitz geworden war. Niemals bis zu diesem einmaligen, unvergesslichen Augenblick, da ich es zum erstem Male mit eigenen Augen sah und also zum ersten und endgültigen Male zum Geologen wurde: Die Erde lebt!“ (Hans Cloos: Gespräch mit der Erde. Welt- und Lebensfahrt eines Geologen. Frankfurt a.M. : Büchergilde Gutenberg 1954. Lizenzausgabe des Piper-Verlags München im gleichen Jahr, S. 16/17)

Hans Cloos 1885 – 1951

Während der vier Generationen zwischen dem Lebenswerk von Cloos und dem von Bjornerud hat die Geologie ihr Geschäft der Datenerhebung präzisiert und – noch viel wichtiger – ihre Unschuld bei der Komplizenschaft des Abbaus der Erde verloren. Aber die Nähe zur Erde – als Gesprächspartner und Heimatraum – bezeichnet das Grundverhältnis beider Forscher. Und ist es nicht diese Nähe, die am Ende den Ruin des Ausbeutungsgeschäfts bedeuten könnte?

Beim Lesen der beiden Bücher finde ich eine Parallele, die mich ein wenig unheimlich anmutet, aber angesichts des Arbeitsfeldes doch folgerichtig erscheint: Beide akzeptieren und beschreiben Untergangs-Szenarien. Bjornerud weist darauf hin, dass die Sonne etwa die Hälfte ihrer Lebenserwartung hinter sich hat, und beschreibt die Vorstufen des Untergangs. Bereits 3 Milliarden Jahre, bevor die Phase des Roten Riesen erreicht ist, in dem die Erde und alle anderen Planeten von ihr erfasst werden, wird ihre stets zunehmende Strahlkraft die Erde derart erhitzen, dass die Ozeane evaporieren. Wenn das Wasser im Weltraum verschwunden ist, werden Vulkangase freigesetzt. Es wird derart heiss, dass die Voraussetzungen für Leben auf unserem Planeten fehlen. Schon viel früher, in etwa 80000 Jahren, könnte – nach den von Milankovich berechneten Sonnenzyklen – eine neue Eiszeit entstehen, aber ob es so weit kommt, hängt von der Konzentration der Treibhausgase und anderen von Menschen beeinflussten Variablen ab, die kaum zu berechnen sind. Es ist schon kaum möglich, das Geschehen für die nächsten tausend Jahre vorherzusagen. Sollten die Kohlenstoff-Emissionen nicht zurückgehen und womöglich im Klimasystem positive Verstärkungen auslösen, könnte die Erde eine Wiederholung des Wärme-Maximums im Paläozän erleben: Anstieg des Meeresspiegels um Dutzende von Metern, anhaltende Dürreperioden, häufigere und gewaltigere Sturmereignisse. (Abschnitt „Future Tense“, p. 172)

Bei Hans Cloos finde ich einen vergleichsweise kurzen Text „Haus der Steine“, der das Geologenleben des Verfassers in die Gestalt eines mit Mineralien und Fossilien und Merkwürdigkeiten vollgestopften Hauses überträgt. Teils Museum, teils Institut, enthält es Belege zur Erdgeschichte in Auszügen und Anekdoten aus der persönlichen Lebensgeschichte. Im Text berichtet ein Besucher des Hauses, der gleichzeitig auch die Rolle des Hausherrn übernimmt. Durch das Zusammenspiel der beiden Ebenen kommt eine traumartige Wirkung zustande, und tatsächlich endet der Blick aufs Lebenswerk mit einem Traum, oder einem Albtraum:

„Aber heute Nacht hatte ich einen Traum: Es war Krieg. Ein Krieg, zehnmal grauenhafter und zerstörender als alle bisherigen zusammengenommen. Ich sah die Verwüstungen nicht, aber ich wusste, dass etwas so Entsetzliches geschehen war, dass ich sterben müsste im Augenblick, wo ich es ganz begriffe. Der Krieg hatte schon fünf Jahre gedauert und jedes Jahr war verheerender gewesen als das vorangehende. Auf einmal wusste ich, das schöne Haus der Steine war in Gefahr. Durch flammende Strassen und Plätze rannte ich hin, ohne rechts und links zu schauen, stand davor und erlebte gerade, wie das breite Dach in einer einzigen Flamme aufging wie ein Stück Papier. Dann kam das Feuer an die Bücher. Jedes einzelne klappte seine beiden Deckel auf wie Schmetterlingsflügel, eine rote Flamme schoss heraus und das Buch war fort. Indem ich gebannt dem seltsam schönen Schauspiel zusah, fiel vom Himmel herab ein unbeschreibliches Rauschen, das in einem nie gehörten, lang ausrollenden Donner endigte. Der rechte Flügel des Gebäudes flog in einer einzigen Purpurwolke auseinander und regungslos für Augenblicke stand vor der roten Wand die volle Herrlichkeit der grossen und kleinen Tiere und der bunten blitzenden Kristalle gleich einer köstlichen Stickerei; so dass man jedes einzelne Stück sah und erkannte in seiner tiefen Bedeutung und überzeitlichen Schönheit, und also das Gesetz des Ursprungs, um das sich die Forschung seit Generationen vergeblich bemüht, selbst sichtbar wurde als ein in leuchtenden Linien verzweigter Baum der Erkenntnis. Schon im nächsten Augenblick sank die Erscheinung in einem grauen, prasselnden Hagel zusammen. Ich fühlte noch, wie sich mir ein Stein auf den Kopf legte, und wusste, es war der runde weisse Ammonit Nodosus, den der alte Professor seit seiner Knabenzeit auf seinem Tisch liegen hatte, weil er ein Fund und Geschenk seines Vaters war und von diesem einen Stück sein Verhältnis zur Welt der Steine ausging…“ (S. 290/291)

– Vielleicht ist es unter rhetorischen Gesichtspunkten gestattet, an dieser Stelle das Muster der strikten Argumentation zu verlassen und die Erörterung mit einer Art Synkope zu beschliessen.

Im Mai 2005 – ein Jahr nach dem gewaltigen Tsunami – hatte ich in Sri Lanka bei einem Projekt zum Katastrophenschutz zu tun. Eine junge Frau führte uns „Am Strand gehen“ vor, eine der Übungen, mit denen sie Schülerinnen und Schülern „Achtsamkeit“ (oder das buddhistische Verhalten, das wir so nennen) vermittelt. Sie wies auf das enorme Alter jedes Sandkorns hin und erklärte, dass die Schichten des feuchten Sandes unter dem trockenen Sand voller kleiner Lebewesen seien, so dass man vorsichtig auftreten müsse, um sie nicht zu töten. Sie fragte ob die Haut das Strahlen der Sonne fühle und wie das Rauschen des Meeres und das Mövengeschrei im Ohr klinge. Ob zu spüren sei, wie der Wind durch die Nase in die Lungenflügel dringt. Sie zeigte, wie es aussehen kann, wenn eine Person so auf dem Sandstrand geht, dass sie ganz und gar präsent ist. Die Kinder ahmten ihr Vorbild hingebungsvoll nach, und sie erklärte uns, dass das einzige Ziel ganz einfach sei: Es gelte, den gegenwärtigen Moment durch das eigene Sein vollkommen aufzunehmen.

Gänseei

Gänseei, gefärbt in einem Sud aus Zwiebelschalen, mit Gierschpflänzchen unter Mullbinde am 8. April 2022

Nachbar Heinrich hält im alten Kuhstall ausser einem Dutzend Hühnern auch drei Gänse. Die halten den Habicht fern und gehen Patrouille auf Hof und Weideland, zur Zeit dazu immer noch auch im weitläufigen Gemüsegarten. Die schweren weissen Vögel akzeptieren Besucher wie mich, so lange ich ins Bild passe, aber sie richten ihre Hälse steil empor wie Gardesoldaten ihre Gewehre und signalisieren Präsenz. Dass sie wieder mit dem Eierlegen begonnen haben, macht Heinrich ratlos: Gänseeier kannst du nicht essen, und er kann keine grössere Herde gebrauchen, und er kann auch nicht die Alten durch Junge ersetzen, weil er Gänse noch nie töten konnte und es inzwischen auch nicht mehr vermag, sie zu einem Schlachter zu fahren und dann das Fleisch abzuholen. Was soll ich machen, fragt er, ich zerteppere die Eier. Ich sage, Du brauchst die Eier nicht zerteppern, ich nehm gerne ein paar davon. So komme ich zu vier grossen Gänseeiern. Ihre Schalen schimmern nach dem Schrubben tiefweiss, ich greife sie einzeln auf und fühle ihr Gewicht auf meiner Hand.

Dann hole ich den Zwiebelkorb aus dem Küchenschrank und fummele die dünnen, hellbraunen äusseren Häute mit den Fingerspitzen von den Zwiebelknollen herunter und lege diese Hautschalen in einen Kochtopf. Ist der Topfboden fingerbreit mit einer Schicht bedeckt, zerkrümele ich sie mit einem Elektro-Pürierstab. Mit Wasser aufgefüllt, ergibt das den Tee, der die Eier färbt. Draussen, um den Nussbaumstamm herum, hat sich ein dichtes rundes Feld von kleinen Gierschpflänzchen ausgebreitet. Ich hatte mir im Herbst vorgenommen, dort viele rotblühende Tulpenzwiebeln einzupflanzen, es aber, wie manches andere Vorhaben, vorübergehend aus den Augen verloren. (In Sammatz, einem Dorf im Drawehn, ist der Traufbereich eines Kirschbaums ganz mit hohen Gierschpflanzen überwuchert, aus denen Dutzende von roten Tulpen herausschauen. Wenn der Giersch weiss und fluffig blüht, macht das ein besonders hübsches Bild.) Jetzt zwicke ich einen der schon ansehnlich getriebenen Stängel ab, um das Gänseei mit seinem Abdruck zu schmücken. Dazu schneide ich vom Mullbindenwickel aus dem Apothekenschränkchen ein passendes Stück ab und lege einen zweifingerlangen Zwirnfaden bereit. Das Pflänzchen auf der Eierschale platzieren, das Mullbindenrechteck mittig drüberbreiten und auf der Rückseite des Eies fest zusammendrehen und schliesslich das Zopfende mit dem Faden umwickeln und den verknoten.

Vier Eier auf der Schicht zerkrümelter Zwiebelschalen im Kochtopf, – mit kaltem Wasser aufgefüllt, ziehen und köcheln sie bei mittlerer Hitze eine gute Stunde lang. Unter fliessendem kalten Wasser spüle ich dann mit Hilfe einer kleinen Schere Mull und Pflanzen von ihnen ab. Die gesamte Prozedur ist eine Routine, die ich bestens kenne. Meist sind es Hühnereier gewesen, die ich im Lauf der Jahrzehnte mal mit Löwenzahn, mal mit kleinen Blattrosetten von vielerlei Kräutern verschönert habe, diesmal sind es Gänseeier, auch schön. Natürlich bietet sich hier ein Diskurs an über die zeitlose Frage, was Kitsch ist, und eine ebenso zeitunabhängige Erörterung zur ästhetischen Bildung, abgesehen von Einzelheiten, etwa der merkwürdigen Attraktivität der Naturfarben mit ihren Mischtönen, Unreinheiten und ihrer im Vergleich zu den Industriefarben irgendwie vielschichtigen Eigenart.

In diesen Tagen drängt sich wegen des Krieges in der Ukraine aber zuerst der grundsätzliche Verdacht auf, dass jemand, der an Ostern Gänseeier färbt, sich wegducken will vor dem schreienden Unrecht des militärischen Überfalls auf die Zivilbevölkerung, jenen Zivilisationsbruch, jenen Alptraum, der unsere Träume ausfüllt und mit Beschlag belegt. Die Bilder von Leichen, von Kindern neben den Leichen ihrer Eltern, die Bilder von Koffern und Taschen und Kinderwagen inmitten von Blutflecken auf einem menschenleeren Bahnsteig, verfolgen mich. Die „Neue Zürcher Zeitung“ berichtet von zunehmender Brutalität der russischen und nun auch der ukrainischen Seite, und verkündet dann die Erkenntnis, dass diese Eskalation von Mord und Totschlag bei zunehmender Dauer des Krieges unausweichlich folgen müsse. Am deprimierendsten ist für mich das Gefühl, von diesem Sog selbst erfasst zu werden, in eine Welt aus Gewaltphantasien hinein zu geraten, die mein Bewusstsein beschmutzt und erniedrigt. Ich habe gelernt, die Struktur der Welt nicht nach dem Muster von Tolkiens Herr der Ringe zu sehen, als Krieg gegen Sauron und eine endlose Kette von Schlachten gegen die Orks. Wir brauchen keinen Führer, und wir brauchen keine Helden, Gandalf braucht nicht unser Präsident zu werden. Die Gewissheit, dass die Welt so nichtkriegerisch sein soll, ist noch da, und doch ist es keine ruhige Gewissheit mehr. Unruhe scheint in der Luft zu liegen, alles mögliche Unausdenkliche könnte geschehen. Weil alles mögliche Unausdenkliche geschieht. Das soll nicht so sein. Die Zivilisation – was immer das bedeutet – ist die Zivilisation, die wir in uns tragen und deshalb jenseits des Flusses neu errichten können.

Dass diese Übung des Eierfärbens mit ihren einzelnen Schritten, die jeweils Umsicht und Handfertigkeit verlangen, für mich so wohltuend rückbindend und bestärkend wirkt, hängt einfach mit den beträchtlich langen Zeiträumen zusammen, über die mich diese Folge von Handgriffen begleitet hat. Da ist ein Ritual entstanden, das zu mir gehört und mich an viele Erinnerungen an viele Menschen und viele Orte zurückbindet. Dass alles händisch geschieht, hilft, das Ritual in den Tiefen des Bewusstseins zu verankern. Es ist immer ein bisschen anders als letztes Jahr, und immer ein bisschen dasselbe.

In der letzten Ausgabe der „New York Review of Books“ (7. April 2022) schlägt Wendy Doniger, Expertin für Sanskrit-Übersetzungen, vor, das Wort „Dharma“ unübersetzt zu lassen. Es sei unübersetzbar, aber doch nachvollziehbar, und inzwischen auch einer westlichen Leserschaft einigermassen geläufig. „Dharma“, schreibt sie, „ist der unübersetzbare Begriff dafür, wie die Dinge sind, oder dafür, wie die Dinge nicht sind aber sein sollten.“ Das im Englischen häufig für „Dharma“ gebrauchte „righteousness“ changiert in seiner deutschen Bedeutung zwischen „Gerechtigkeit“ und „Rechtschaffenheit“. Wikipedia zitiert ein Lexikon mit der Definition: „Dharma kann Gesetz, Recht und Sitte sowie ethische und religiöse Verpflichtungen und Werte beinhalten, aber auch ReligionEthik oder Moral im Allgemeinen oder konkrete religiöse Rituale, Methoden und Handlungen bezeichnen.“ – Die Schwierigkeiten einer klaren und eindeutigen Übersetzung sind offensichtlich. Darin liegt nicht nur eine Schwäche, sondern auch eine Stärke, zumal wenn man nach dem Wort für ein Verhalten Ausschau hält, dessen moralischer Anspruch durch geläufige Begriffe nicht gedeckt ist.

Das Gefühl, das in dem bekannten (oft Martin Luther zugeschriebenen) Spruch zum Ausdruck kommt „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute doch ein Apfelbäumchen pflanzen“ – ist das Dharma? Und im Alter und in Kriegszeiten das persönliche Ritual weiter zu üben, das man mit Kindern und Kindeskindern und mit Freunden und allein seit Jahrzehnten geübt hat – das vielleicht auch?

Die Verwandlungsbereitschaft der Dinge erscheint auf ihrer Oberfläche

Vielleicht ist die Verwandlungsbereitschaft der Dinge im Frühjahr am leichtesten zu verfolgen. Es drängt uns, morgens das Längerwerden des Lichts zu kommentieren, noch bevor wir nachschauen, ob auf Vogeltränke und Regentonne eine Eisschicht ist. (Eis auf der Regentonne bedeutet eine harte Frostnacht, doch findet sich in diesem Jahr dort ab Mitte März nur noch selten eine dünne Eisfolie, während das Wasser in der Vogeltränke noch zur Kruste erstarrt ist.)

Seit ich im Traufbereich der Hainbuche das Gras nicht mehr schneide und den Blätterfall liegen lasse, haben sich die wilden Krokusse ausgebreitet

Schon Ende Februar ist der Traufbereich unter dem Feldahorn mit Krokusblüten ziemlich dicht bedeckt. Die trockenen Reste von Blattstreu, wo den Winter über ab und zu ein hungriger Kernbeisser herumsuchte, sind von einer blauen Blütendecke verdrängt worden. Der Boden war in der Tiefe mit einer Schicht aus Hunderten von Zwiebelchen gepflastert, die binnen weniger Tage laut und deutlich hervorgebrochen sind: So verwandelte er seine Oberfläche vor den Augen der ganzen Welt.

Ein Freund erzählt, dass die gelben Krokusse, die im Garten an anderen Stellen leuchten , von Amseln aufgepickt werden: Der gelbe Farbstoff enthalte eine Substanz, die den Vögeln hilft, ihre Lieder zu schmettern. Ob das auch für den Grünspecht gilt, dessen Gelächter seit Tagen immer wieder ganz unerwartet unser Gespräch unterbricht?

Schneeglöckchen und Winterling, Scharbockskraut und Veilchen treten massenweise an den Rändern von Wäldern und alten Parkanlagen hervor. Vom Schloss in Wehningen ist seit langem kaum noch ein Stein übrig, aber die Böschung des alten Schlossgrabens leuchtet weiss von Schneeglöckchenfeldern, und die Zweige der starken Äste der mächtigen Eichen sind mit auffallend hellen Knospen besetzt. An Strassenrändern und hinter Gartenzäunen bilden blühende Pflaumenbäume weisse Wolken, und man staunt, welche Mengen es davon hier auf dem Lande an allen Ecken und Enden gibt.

Am 26. März nachmittags im Sonnenschein auf einer Bank am Rande des Waldes: Über dem Boden des Sandwegs vor uns wimmeln hummelartig behaarte kleine Wildbienen durch die Luft; sie stürzen herab, drängen sich zu zweit aneinander, beginnen als einzelne zu suchen und im trockenen lockeren Sand zu graben. Wo kommen sie her? Gibt es Nester, aus denen sie hervorschwärmen, um sich über die Landschaft des Sandweges zu verteilen? Abends im Internet lese ich eine Notiz von Henri Greil: „Die Grosse Weidensandbiene Andrena vaga ist jetzt in Braunschweig sehr aktiv. Viele patrouillierende Männchen, Paarungen. Die Weibchen bauen Nester, Pollen sammeln aber noch nicht viele.“ (#BeesUp) Ob der Frühling uns zur Wahrnehmung derartiger Beobachtungen treibt, – so dass wir selbst erfasst sind von jener ausufernden Kraft, die den Schwarzdorn mit Blütenmassen bedeckt und die Nachtigallen in Uganda auf den Weg nach Norden schickt?

Zur gleichen Zeit wie die Sandbienen steigen Ende März erste Lerchen empor, eine jubelt über einem Acker bei Wulfsahl, eine andere über einer Rinderweide an der Elbe bei Damnatz. Ihr Lied habe ich seit Jahren nicht zu hören vermocht, die Aufführung nehme ich jetzt als Geschenk des Frühlings und meiner neuen Hörgeräte. (Wie die Brille, bieten sie einen Beleg für den gelegentlichen Segen technischer Hilfsmittel.)

Immer mehr Störche tauchen auf aus der Tiefe des Raumes, wir sehn sie beim Durchschreiten der Wiesen im Aueland, paarweise und einzeln, oder in ihren Nestern herumstochernd, etwa oben auf dem Schornstein der alten Molkerei. Kranichgeschrei schallt herüber, man weiss nicht, ob es aus den Lüften oder von den Feldern her kommt. Als wir an die Küste fahren (nachschauen, ob das Meer noch da ist), geraten wir im Moränengelände in ein schönes Bild: Die grünen Hügel besetzt mit lauter grauschwarzen Kranich-Trupps, jeder der Vögel des Geschwaders auf eigene Weise elegant.

Ostseestrand bei Kühlungsborn-Arendsee Ende März 2022

Wir meinen, dass wir Stunden damit zubringen könnten, die wechselnden Muster auf der Oberfläche des Meeres zu beobachten: Die am Ufer auslaufenden Wellen fräsen ihr eigenes Abbild als Rippelmarken-Muster in den Sand, von weit draussen rollen sie eine endlose Kette breiter Bänder heran, die stellenweise von Querbändern gekreuzt werden. Selbst bei Flaute fallen Windstösse wie Stempel aufs Wasser und bilden Inseln gekräuselter Oberfläche im glatten Leuchtspiegel der See. Der Horizont, eine extrem akkurat waagerecht gezogene Linie („Schau mal der Horizont, wie mit dem Messer gezogen“, – ich habe den Spruch eines Norwegers noch im Ohr) bietet uns heute den raren Anblick einer verdoppelten Parallele. Obendrauf schwebt ein Schiff über dem hellen Band dieser beiden Linien, das an der Unterseite von der dunkleren Wassermasse abgegrenzt wird. Ganz allmählich löst sich die Spur am westlichen Ende aus der parallel verlaufenden Horizontale heraus und kippt in leichtem Winkel nach unten. Wer will diese Phänomene erklären? Und wem bliebe die Faszination des Ozeans nicht rätselhaft? Von dieser Wassermasse geht eine Kraft aus, sie uns trifft als Einladung, als Anspruch. Die jungen Leute, die früh morgens bei Sonnenaufgang am Ufer stehen oder an der Wasserkante entlang laufen, vernehmen sie vielleicht als attraktive Melodie.

Tage später, am Ufer der Hochwasser führenden Elbe, staksen wir über den breiten Gürtel von Treibsel, bewundern die Vielfalt der Wassermuster in der mächtig hintreibenden Strömung und vergleichen die Unterschiede zwischen den Ansprachen des Meeres und des Stroms. Flüsse, sage ich, sind individueller, jeder ist eine eigene Persönlichkeit. Sie sind lebendiger, sagt Elisabeth. Die Oberfläche von Flussbildern ist wechselhafter als die von Meeren. Ausserdem: Du bewunderst das Meer, aber kannst du es lieben wie du einen Fluss lieben kannst?

Ähnlich, wie die Flächen des Wassers flimmern und funkeln, drängt sich Grün auf die Flächen des Landes, durchsetzt mit bunten Blüten, Mückenwolken, Zitronenfaltern; kleine und grosse Vögel erscheinen, die Lüfte schimmern bläulich: Alle Welt, nicht nur das, was lebt, sondern auch das, was das Leben trägt, hebt aufs Neue an und verbreitet sich als eine Art Schwingung. Vielleicht ist alles belebt. Wir spüren die Vibration, deuten sie als tiefe Unruhe, die Land und Wasser erfasst und wohl immer da ist, in diesen Wochen ein Beben, über den Rest des Jahres weniger heftig, weniger laut als zu dieser Zeit des Erwachens. Aber das Land ist mitsamt seinen Wassern und Hügeln und Steinen am Saum seiner Oberfläche immerzu in Bewegung. Es lebt, und die Mineralien und Metalle, die es birgt, sind auf ihre Weise ebenfalls lebendig. Auch wenn wir sie auf den ersten Blick für leblos halten: Die intensiven Bewegungen des Frühlings reichen nicht weit genug, uns kurzlebigen Beobachtern die lang anhaltenden Schwingungen dieser Dinge in den Sinn zu bringen.

Jane Bennett hat in ihrer Studie „Vibrant Matter. A political ecology of things“ (2010) ein Kapitel mit „A life of metal“ überschrieben. Da trägt sie philosophische Argumente für ein eigenes Leben von Dingen – etwa Mineralien und Metallen – zusammen, die uns viel ferner liegen als Pflanzen und Tiere, – Organismen, mit denen wir ja im Wortsinn verwandt sind. Bennett unternimmt es, das Leben der leblos erscheinenden Dinge zu begründen. Dazu ist es notwendig, dass sie sich mit den Vertretern der „Lebenskraft“-Philosophie befasst. Sie zeigt, dass Henri Bergson (1859 – 1941) mit seinem „elan vital“ und Hans Driesch (1867 – 1941) mit seiner „Entelechie“ nichtmaterielle Grössen ins Spiel bringen bzw. auf nichtmaterielle Einflüsse mit sehr langen Ideengeschichten zurückgreifen.

Wie wäre es, wenn wir in einer ganz und gar materiellen Welt lebten? Bennett folgt (vor allem) der Argumentation der Philosophen Gilles Deleuze (1925 – 1995) und Félix Guattari (1930 – 1992) und fasst zusammen: „Für Vitalisten wie Bergson und Driesch schien die Materie, um animiert und mobil zu werden, nach einer nicht-ganz-materiellen Ergänzung zu verlangen, einem élan vital oder der Entelechie, während es Deleuze und Guattari klar ist, dass Materialität keiner animierenden Zutat bedarf. Sie ist selbst als „aktives Prinzip“ konfiguriert.“ (p. 61, übers. H.S.)

Diese Materie ist kein blosser „Werkstoff“, sondern lebt aus sich selbst, jedes ihrer Atome zitternd vor Energie. Beim Lesen finde ich interessante Begriffe, die Bennett aus neueren philosophischen Erörterungen zitiert: „Vibrierende Ausflüsse, die jedem Arrangement vorausgehen“, „prozesshaft aufstrebende Qualitäten“, die Vorstellung von Materie als einer „drängenden Menge von Anfängen und Tendenzen“. Denk-Experten versuchen hier, die flüchtige Grösse eines eigenen vibrierenden Lebens der Dinge begrifflich zu fassen, die in unserer hergebrachten und anerzogenen Vorstellung durch eine Kluft von den organischen Wesen getrennt ist.

Was mir dabei hilft, dieser befremdlichen Vorstellung näher zu kommen, ist eine Passage, in der Bennett an die Erfahrung erinnert, die uns aus Handwerk und Kunst mehr oder weniger geläufig ist. Ich finde die Spur, die mir das Leben vermeintlich toter Dinge plausibel macht, wo von der Widerständigkeit der Werkstoffe die Rede ist. Dass diese unseren Werktätigkeiten nicht nur passiv widerstehen, sondern eine eigene „Körperhaftigkeit“ zum Ausdruck bringen, sei eine den Handwerkern wohl bekannte Erfahrung: „Anstelle einer vom Werkstoff trennbaren Gestaltungskraft, begegnen Handwerker (und Mechaniker, Köche, Bauleute, Reiniger und jede Person, die mit Dingen näher zu tun hat) einer selbstbeharrlich den Dingen innewohnenden Materialität, die eigene Gestaltungsansprüche und Neigungen zeigt.“ (p.56, übers. H.S.)

Wer mit Holz arbeitet, muss Holz verstehen. Gelungene Skulpturen sind aus Stein „herausgeholt“ worden, als ob es der Stein selbst darauf angelegt hätte. Es gibt eine sehr alte und reiche „händische“ Erfahrung des handwerklichen und künstlerischen Umgangs mit Material. (Das Wort „Werkstoff“ betont den instrumentellen Blick auf die Welt; ich vermute, dass die Holz- und Steinhandwerker der Vergangenheit einen Respekt vor den Eigenheiten des Materials übten, der von diesem Wort „Werkstoff“ nicht erfasst wird. ) Möglich, dass unsere fernen Vorfahren eine Nähe zu den Dingen kannten, die seither verloren gegangen ist – schon im alten Griechenland hatte das Wort „Handwerker“ (Banausoi) einen verächtlichen Beiklang. Es liegt (mir) nahe, die alte Nähe zu den Dingen als Teil eines Weltbilds zu verstehen, das durchgängig überall lebende Wesen wahrnahm. Da gab es keine Kluft zwischen lebenden und unbelebten Dingen, und demzufolge auch keine zwischen Geist und Materie: Die Dinge brachten beide Ansichten zum Vorschein.

In dem schönen Buch „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ finde ich ein hübsches Beispiel.

Jadebeil, gefunden in der Nähe von Canterbury, England, 4000 – 2000 v. Chr. Aus: Neil McGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten. .München: Beck. 5. Aufl. 2013, S. 120

McGregor beschreibt dies perfekt geschliffene Jadebeil als Luxusgegenstand, der nie an einem Schaft befestigt und nie zum Bäumefällen benutzt wurde. Die Jade stammt aus den italienischen Alpen, wo vor 6000 Jahren in 2000 Metern Höhe Jadeblöcke abgebaut wurden. (Mit Hilfe von Feuer und Hebeln; die genaue Stelle wurde im Jahre 2003 ermittelt.) McGregor zitiert den Experten Mark Edmonds: „Wer das Glück hat, eine dieser Äxte anfassen zu dürfen – wer spürt, wie sie in der Hand liegt, wer ihre Symmetrie, ihr Gewicht, ihre Glätte fühlt -, wird erstaunt sein, wie extrem glatt sie poliert ist. Um das zu erreichen, ist sie stundenlang an einem Stein gewetzt, dann mit feinem Sand oder Lehm und Wasser poliert und schliesslich in der Hand hin und her gerieben worden, vielleicht mit Fett und Blättern. Das dauert tagelang. Es verleiht der Schneide erst wirkliche Schärfe und Robustheit, betont aber auch die Form, ermöglicht deren Kontrolle und fördert die ausserordentliche grüne und schwarze Sprenkelung des Steins zutage – die Axt ist auf einen Blick zu erkennen und bietet einen bestechenden Anblick. „ (S. 122/123)

Diese Axt ist das Produkt der handwerklichen Arbeit an dem Silikatsteinbrocken aus Jade. Da ist etwas Neues in die Welt gekommen. Bevor dies Ding infolge der Auseinandersetzung zwischen Handwerker und Jadebrocken greifbar wurde, war es allenfalls als vage Idee präsent. Besteht die besondere Funktion des Materials – Holz, Mineral, Metall – vielleicht darin, neue Gestalten, neue Formen in die Welt zu bringen, – durch die Kooperation mit Menschen?

Bronze-Skulptur von Waldemar Nottbohm, Hitzacker

Die 13 cm hohe Skulptur aus Bronzeguss, das Geschenk meines Freundes Waldemar Nottbohm, erinnert an eine organische Gestalt. Die Oberfläche mit teils schrundigen teils glattpolierten Passagen lädt ein, das Teil in die Hand zu nehmen. Gewicht (540 g) und Knochen- oder Astform liegen angenehm darin, wie ein Handschmeichler mit Statusanspruch.

Der Umgang mit Metallen – Giessen und Schmieden – brachte anfangs vor allem deren Neigung zur Selbstveränderung ans Licht. Legierungen sind nicht allein die Folge metallurgischer Massnahmen, sondern auch die einer im Metall selbst liegenden Wandlungsfähigkeit. „Im Sumer-Reich wurde ein Dutzend Arten von Kupfer mit verschiedenen Bezeichnungen entsprechend Herkunftsort und Reinheitsgrad inventarisiert. Dies bildet eine fortgeführte Melodie des Kupfers, und der Handwerker wird sagen: Das ist genau, was ich brauche. Aber trotz dieser Durchbrüche der Handswerkskunst gibt es keine feste Ordnung der Legierungen, ihrer Varianten oder ihrer kontinuierlichen Veränderungsfolge.“ (Deleuze: „Metal, Metallurgy, Music, Husserl, Simondon“, zitiert nach Bennett p. 59/60) Man führt das Zufallsmuster auf die besondere Struktur von Metallen zurück. Sie sind polykristallin („vielkristallig“), aber die vielen winzigen Kristalle, aus denen sie bestehen, sind von ganz unregelmässiger Gestalt, so dass Zwischenräume entstehen, die sich zumal bei Erhitzung verändern. Bennett kommentiert: „Eine metallene Vitalität, ein (nichtpersönliches) Leben, kann im Beben dieser freien Atome am Saum zwischen den Körnern des polykristallinen Gebildes gesehen werden.“ (p. 59)

Beim Nachdenken über lebende und vermeintlich tote Dinge finde ich die Tatsache interessant, dass Pflanzen, Pilze und Tiere – die Lebewesen auf der Erde – Mineralien und Metalle zum Aufbau ihrer Organismen einsetzen: Statt sie als tote Fremdkörper abzustossen, integrieren sie sie als Bestandteile der eigenen Körper, – als ob es darum ginge, Spinozas geschwisterlichen Begriff „Conatus“ (das Beharren der Dinge und Lebewesen, ihr Bestreben, da zu bleiben) zu bestätigen.

Unter der Überschrift „Warum der Stachel des Skorpions so hart ist“ lese ich am 25.3.2022 (Diemut Klärner in der FAZ) den Bericht über neue Forschungserkenntnisse: Dass der Panzer von Strandkrabben aus einer Mischung von (organischem) Kohlenstoff und (mineralischem) Kalziumkarbonat besteht, die Raspelzunge von Napfschnecken mit Zähnchen aus Nadeleisenerz oder Magnetit besetzt ist, dass Insekten ihre Zähne und Klauen durch gleichmässig verteilte Atome von Zink, Mangan, Eisen und Kupfer verstärken. Die Kiefer der Blattschneiderameise werden so zu „Messern mit Wellenschliff“, der Stachel von Skorpionen zu einer Mangan verstärkten Kanüle, deren äusserste Spitze mit dem noch härteren Zink verkleidet ist. Auch unser menschliches Skelett besteht aus „einem Verbundmaterial mit organischen und mineralischen Komponenten“, und unsere Zähne – so lange sie kein Ersatz sind – aus Hydroxylapatit, einer Form von Kalziumphosphat.

Die Natur folgt keiner Theorie und keinem vorher ausgedachten Plan. Ihr Drang, einfach da zu sein, mag manchem als blind erscheinen. Aber diese Blindheit schliesst Dinge nicht aus, die uns leblos erscheinen. Auch diese sind eingebunden und aufgehoben im umfassenden Lebenszusammenhang.

Eine Öffentlichkeit, die andere Tiere, Menschen, Pflanzen und Dinge einschliesst

John Dewey (1859 – 1952)

Im Lauf der seit 1952 (seinem Todesjahr) vergangenen Zeit ist die Aktualität der Philosophie John Deweys immer wieder deutlich zum Vorschein gekommen. Etwa in Jürgen Habermas‘ Aufsatz anlässlich der deutschen Übersetzung von Deweys „The Quest for Certainty“ (1929, Martin Suhrs Übersetzung „Die Suche nach Gewissheit“ erschien 1998 bei Suhrkamp in Frankfurt). Damals, 1998, in den jungen Jahren der Berliner Republik, erklärte Habermas Deweys Analyse der Philosophie-Geschichte: Er habe sie als vergebliche Suche nach vermeintlichen Gewissheiten verstanden und daran erinnert, dass wir uns bei unseren Bemühungen zur Lösung unserer Probleme einzig und allein auf „die eigene intelligente Anstrengung“ verlassen können. Dewey, schrieb Habermas 1998, sei „der bessere Patron“ für das wiedervereinte Deutschland.

Nun finde ich ein Buch (erschienen 2010) mit einer philosophischen Studie, in der die Politikwissenschaftlerin Jane Bennett Deweys Begriff von „Öffentlichkeit“ auf den gesamten weiten ökologischen Zusammenhang von Dingen und Lebewesen überträgt, an denen die menschliche Gesellschaft teilhat. Als aktuelles Beispiel solcher Teilhabe drängt sich mir in dieser Zeit die Wechselwirkung zwischen Coronaviren, Fledermäusen, lokalen Esskulturen und globalen Handelsbeziehungen auf. Bennetts Studie („Vibrant Matter. A political ecology of things“ Durham and London 2010; deutsch: „Lebhafte Materie. Eine politische Ökologie der Dinge.“ Berlin 2020) spricht eine Reihe interessante Aspekte solcher unbeabsichtigter Arrangements aus verschiedenen Wesenheiten an, – und damit Themen, die für eine breite Öffentlichkeit immer aktueller werden. Ein schöner Fund der Autorin ist das Wort „conatus“ – „Beharren und das Bestreben, da zu sein“ -, das Baruch Spinoza in seiner Philosophie auf sämtliche Dinge angewendet hat, die da sind – Steine, Metalle, Felsen und Flussauen eingeschlossen. Das Wort, so scheint mir, drückt eine Art Geschwisterlichkeit aus, ähnlich wie die rituelle Sprachwendung der Lakota Mitakuye O’Yasin: „Alles meine Verwandtschaft!“

Jane Bennett Duke University Press. WordPress.comn

Bennett behandelt in „Vibrant Matter“ die verschiedenen Erscheinungsformen von Conatus – von den Tieren (das Feld wird laufend beackert und erweitert) und Pflanzen (deren Wechselwirkung mit uns Tieren über die Ernährung) bis hin zu Objekten, Steinen, Metallen (ein faszinierendes Thema, das eine eigene Wiedergabe verdient). Sie betont den Vielheits-und Mischungs-Charakter und findet Ansammlungen von Zusammenlebenden, die das Konzept eines „Parlaments der Dinge“ nahelegen, das Bruno Latour ins Spiel gebracht hat. Bennetts Buch fügt unterschiedliche Themenstücke so zusammen, dass sich daraus ein überaus interessantes Patchwork-Muster ergibt. Diese gelungene Gestalt ist vor allem Ausdruck der Überzeugung, die ihre Perspektive prägt und die sie am Ende als Botschaft klar und eindrucksvoll zusammenfasst:

„Ich glaube an eine Materien-Energie, die Schöpferin der sichtbaren und unsichtbaren Dinge. Ich glaube, dass dies Pluriversum von unterschiedlichen Kräften durchquert wird, die andauernd Dinge hervorbringen. Ich glaube, dass es falsch ist, nichtmenschlichen Körpern, Kräften und Formen Lebenskraft abzusprechen, und dass ein sorgsam beschrittener Weg des Anthropomorphierens helfen kann, diese Lebenskraft zum Vorschein zu bringen, selbst wenn sie sich der vollständigen Übersetzung entzieht und meinem verstehenden Zugriff ausweicht. Ich glaube, dass Begegnungen mit lebender Materie meine Phantasien menschlicher Meisterschaft dämpfen, die allem gemeinsame Materialität beleuchten, eine weiter reichende Verteilung der Einflussnahme aufdecken und das Selbst mit seinen Interessen umformen kann.“ (p. 122 „Vibrant Matter“; übers. H.S.)

Neu an diesem Programm erscheint auf den ersten Blick der Einschluss von Materie, die weder der Vegetation noch der Tierwelt zuzuordnen ist, etwa Gesteine und Gewässer. Aber selbst da können Schutzbestimmungen für Täler und Berge als eine Art Vorläufer gelten. Die Zuschreibung der juristischen Personwürde für den Berg Taranaki, den Fluss Whanganui und das Seengebiet Te Urewera in Neuseeland erscheinen mir besonders interessant: Es sind exemplarische Landschaften, die Pflanzen und Tiere in Wechselwirkung mit Wasser und Fels entfaltet haben. Diese Transaktionen bilden ökologische Räume voller Rhythmen und Formen, in denen der Auftritt individueller Akteure eingebunden und aufgehoben erscheint. Die Beobachtung beleuchtet Bennetts Konzept der „flimmernden“ und flimmernd lebendigen Materie: Tiere, Menschen, Pflanzen schaffen mit Erde und Wasser und Licht eine komplexe Kooperative mit vielen Akteuren.

Unter menschlicher Perspektive kann dies Zusammenwirken als eine Art Staatswesen betrachtet werden, in dem zum Wohl und Erhalt des Ganzen allen Einflussträgern und Akteuren prinzipiell ein Mitsprache- und Mitentscheidungsrecht zukommt. Dies entspräche einer Erweiterung des demokratischen Gedankens. Dass die anfängliche Einschränkung des Stimmrechts von weissen männlichen Grundbesitzern auf Frauen, auf besitzlose, auf jugendliche Personen ausgedehnt worden ist, bringt die Möglichkeit weiterer Ausweitung auf alle Conati zum Vorschein, deren Dasein irgendeinen Einfluss auf das Zusammenleben hat. In einem ökologisch-demokratischen Staatswesen sollen sämtliche Teilhabenden politisch vertreten sein.

Mount Taranaki, Neuseeland, wikipedia

Dieser Anspruch wird, so scheint mir, in zahlreichen gesetzgebenden Gemeinwesen bereits ansatzweise auf Teilgebieten wahrgenommen und schrittweise – etwa durch Bestimmungen zu den Rechten von Tieren – so umgesetzt, dass das Herannahen einer entsprechend erweiterten Öffentlichkeit zum Vorschein kommt. Noch bleibt diese Vorstellung Spekulation, aber es ist nicht übertrieben, wenn wir nicht nur Neuseeland, sondern einige andere offene Gesellschaften auf dem Pfad tastenden Versuchens sehen, – einem Pfad, der die Möglichkeit verfolgt, über ökologisch informierte Gemeinwesen zu ökologisch konstituierten Öffentlichkeiten zu kommen.

Die politische Philosophie John Deweys ist durch seine Vorstellung von Öffentlichkeit geprägt: Sie trägt das Geschäft der Demokratie. Jane Bennett beschreibt diesen Effekt so, dass Deweys Öffentlichkeits-Begriff als Ökologie-kompatibel erkennbar wird. Bevor Öffentlichkeit entsteht, ist eine „Konföderation von Körpern“ (Bennett) da, Körpern, die eine gemeinsame Erfahrung mitsamt gemeinsam erfahrenen Schwierigkeiten verbindet. Aus dem Leiden kristallisieren greifbare „Probleme“, und diese Probleme – oder eher noch die Aussicht, sie durch gemeinsames Agieren zu überwinden – bewirken das Entstehen von Öffentlichkeit. Probleme verblassen und werden durch neue Probleme ersetzt, und neue Öffentlichkeiten bilden sich, während alte vergehen oder zu beharren versuchen. Es hilft, diese Begriffe im Plural zu denken, und nicht ohne jenen Zufallsgenerator, der als „Kontingenz“ allenthalben im gegenwärtigen Diskurs auftaucht. Denn die Reaktionen einer Öffentlichkeit auf eines ihrer Probleme rufen ihrerseits Probleme hervor, die keiner hat kommen sehen, und schaffen dadurch auch neue Öffentlichkeiten. (Diese Effekte werden aktuell durch den Umgang mit der Corona-Pandemie vor Augen geführt; da zeigt die Vielfalt der Strategien und der u.a. durch sie hervorgerufenen Öffentlichkeiten, wie eng besetzt politische Handlungsräume sind: Die Wirkungen von Aktionen lassen sich kaum, die Rückwirkungen von Reaktionen gar nicht mehr berechnen.)

Dewey bezeichnet die tätige Reaktion auf ein Problem als „conjoint action“, mit einem Wort, das den Schlüssel zum Verständnis seines Öffentlichkeits-Begriffs enthält. Bennett interpretiert das Wort denn auch nicht als „planvolles Handeln“, wie man es im Sinne der Korporationskultur übersetzen möchte, von der Industrieunternehmen, Verwaltungsfelder und das amtliche Bildungs- wie das Gesundheitswesen immer noch geprägt sind. Statt der gleichsinnigen Ausführung eines vereinbarten oder zugewiesenen Plans ruft der gemeinsame Problem-Fokus vielmehr eine Vielzahl von tätigen Reaktionen hervor, deren Summe im Produkt dann als „conjoint action“ aufscheint. Man muss die Wirkung dieser Intelligenz-informierten Rudelbildung vom Ergebnis her aufdröseln.

Bennett stellt vor ihre Erörterung von Deweys Öffentlichkeitsbegriff den Bericht über eine ganz und gar ökologische Studie: Darwins Alterswerk zur Lebensweise von Regenwürmern und deren Auswirkungen auf die Gestalt der sanft hügeligen Landschaften im Süden Englands. Darwin zeigt, dass die Würmer gewissermassen absichtslos eine eigene Lebens-Agenda verfolgen, aber in ihrer Masse damit eine Wirkung erzielen, die das Bild des Landes prägt und insofern das Leben aller dort angesiedelten anderen Lebewesen beeinflusst. Ähnlich, so argumentiert Bennett im Hinblick auf Deweys „conjoint action“, seien auch die Reaktionen einer Öffentlichkeit auf deren Probleme als Summe ihrer Wirkungen aufzufassen: Was am Ende zählt, sind die neu in die Welt gekommenen Bedingungen (mitsamt neuen Problemen und Öffentlichkeiten).

Bennett schreibt: „Deweys Darstellung von Öffentlichkeit als Produkt von „conjoint action“ zeichnet das Bild eines politischen Systems, das vieles gemein hat mit einem dynamischen natürlichen Ökosystem.“ (S. 103, übers. H.S.) Sie sieht hier den Weg frei gelegt für eine theoretische Handlungsanweisung, „die nichtmenschliche Körper als Mitglieder der Öffentlichkeit akzeptiert“. (ibid.) In ihrem Plädoyer dafür, Deweys Öffentlichkeits-Begriff zur Grundlage einer Handlungs-Theorie für das Zusammenleben aller Körper zu machen, gewährt sie auch Bruno Latour einen Auftritt, den man womöglich (nicht zuletzt wegen der ihm zugefallenen Preise) für den aktuelleren Vertreter der Sache der Dinge halten könnte. Latour bewegt laut Bennett die nichtmenschlichen Körper weiter als Dewey in Richtung eines vitalen Materialismus: Sein Begriff „actant“ könne die dominante Vorstellung menschlicher Intentionalität ersetzen helfen, und anstelle von „Kultur“ und „Natur“ spreche er zusammenfassend von „Kollektiv“ – was eine Ökologie aus menschlichen und nichtmenschlichen Elementen andeute. Er verstärke das Zufallsprinzip durch Einführung des Wortes „event“ (Ereignis) im Sinne eines Überraschungsmoments, das allem Handeln innewohne. Als „schwer fassbar“ (elusive) bezeichnet Bennett indes Latours Vorschlag, ein „Parlament der Dinge“ einzurichten. Dass sie Deweys Öffentlichkeitsbegriff für tragfähiger hält, hängt wohl mit ihrer Neigung zusammen, schrittweise, aber konkrete Verbesserungen der Verhältnisse einer revolutionären Neuordnung vorzuziehen: „Das politische Ziel des vitalen Materialismus ist nicht die vollkommene Gleichheit der Aktanten, sondern ein Gemeinwesen mit mehr Kommunikationskanälen zwischen seinen Mitgliedern.“ (S. 104) In dieser Hinsicht gleicht sie John Dewey, der öfters für seinen „Meliorismus“ (der Verbesserung der Lebensweise der Menschen gewidmet) kritisiert worden ist.

Unter den vielen Büchern Deweys scheint mir „Erfahrung und Natur“ (Experience and Nature. New York 1925; deutsche Ausgabe „Erfahrung und Natur“, Übersetzung Martin Suhr, Frankfurt a.M. 1995) am ehesten für das Projekt einer Re-Animation der Welt und einer Öffentlichkeit für alle geeignet. Geeignet im Sinne einer Lampe, die ein Licht auf den zu beschreitenden Pfad zu werfen vermag. Das Werk ist als Deweys „Metaphysik“ bezeichnet worden, und in der Tat ist darin die Frage zentral, was wir bei dem Unternehmen namens „Homo sapiens“ hoffen dürfen. Ich meine, dass die gewissermassen technische Funktion von Deweys ausgiebiger Erörterung darin besteht, die Barrieren wegzuräumen, die wir im Lauf der Kulturgeschichte zwischen der Natur und unserer Art errichtet haben. Dewey zeigt, dass selbst unsere tiefsten Empfindungen, – das, wovon wir annehmen möchten, dass es uns zu Menschen erhebt, als Ausdruck naturgegebener Tendenzen aufzufassen ist. Wir sind nichts Separates, und das Universum ist nicht gegen uns gerichtet. „Natur und Erfahrung“ ist das Gründungsdokument jener all-umfassenden Sicht auf die Welt, in deren Konsequenz die Herstellung einer Öffentlichkeit für sämtliche Conati liegt.

Das Buch hätte Berücksichtigung im Diskurs um die Rechte anderer Wesen verdient. Ich zitiere eine Passage, in der Dewey die Risiken und Chancen unserer Projekte abwägt: „Die Treue gegenüber der Natur, der wir zugehören, wenn auch als schwache Glieder, verlangt, dass wir unsere Wünsche und Ideale solange pflegen und verfolgen, bis es uns gelungen ist, sie in Erkenntnisse umzusetzen und den Mitteln und Wegen anzupassen, die in der Natur gegeben sind. Wenn wir unser Denken in dieser Richtung bis zum Äussersten eingesetzt und somit unser bisschen Kraft in den Vorgang der unausgeglichenen Balance der Dinge eingebracht haben, dann wissen wir, dass wir vertrauen können, selbst wenn uns das Universum erschlagen sollte, denn unser Glück gleicht dem Glück all dessen, was an Gutem besteht. Wir wissen, dass solches Denken und solche Mühe eine Bedingung dafür ist, dass das Bessere in die Welt kommt. Soweit es uns betrifft, ist dies die einzige Bedingung, denn sie allein liegt in unserer eigenen Kraft. Noch mehr zu verlangen wäre kindisch, aber weniger zu wollen wäre egoistisch und feige, weil es ebenso auf die Abtrennung vom Universum hinausliefe wie die Erwartung, dass alle unsere Wünsche wahrgenommen und erfüllt werden.“ (Seite 314 der englischsprachigen Ausgabe von 1925, übers. H.S.)

Mit der Dimension des Glaubens hat sich Dewey auch in „A Common Faith“ (1934) befasst. Hier nimmt er allem, was den Religionen als Jenseitigkeit gilt, das Fundament, findet aber zugleich in den Mustern der Diesseitigkeit Grund genug für die Realität mystischer Erfahrungen und für jene „natürliche Frömmigkeit“, die er als Funktion der menschlichen Beziehung zur Natur versteht. „A Common Faith“, das im Deutschen als „Ein gemeinsamer Glaube“ (in der von Oelkers hrsg. Sammlung Deweys pädagogischer (sic!) Aufsätze, Zürich 2002) oder „Ein allgemeiner Glaube“ (in der Sammlung „Erfahrung, Erkenntnis und Wert“, übers. von Martin Suhr, Frankfurt 2004) eher versteckt als publiziert worden ist, hat vor allem in den USA Kontroversen ausgelöst, die immer noch andauern. Dewey wird da nicht nur von den Vertretern etablierter Religionen kritisiert (2013 etwa durch Thomas Alexander), was zu erwarten war, sondern auch von Vertretern eines säkularen Materialismus und des säkularen Humanismus.

Dewey verteidigt sich mit dem Argument, dass der Atheismus ähnlich wie der in den Religionen herrschende Glaube ans Übernatürliche an einem Menschenbild leide, das uns als isolierte Wesen betrachte und unsere Einbettung in die Natur ignoriere, ja die Natur verachte. In der Seele des Einzelnen, getrennt von einer fluchbeladenen inneren Natur, spiele sich in der monotheistischen Religion das je individuelle Drama von Sünde und Erlösung ab. Aber auch der militante Atheismus vernachlässige die Natur, ein „Mangel an natürlicher Frömmigkeit“ sei geradezu sein Kennzeichen. Dewey findet einen säkularen Humanismus, der die Natur ausklammert, schwach, und dort überheblich, wo er das Menschliche zum einzigen Gegenstand der Verehrung erhebt.

Wie es mir öfters bei der Lektüre seiner Schriften begegnet ist, können Deweys Überlegungen bei der Klärung unserer Vorstellungen helfen. Man muss sich über den Stellenwert der Natur visàvis den verbreiteten und vorherrschenden Glaubensannahmen im Klaren sein, bevor man sich auf die Suche nach Formen einer Öffentlichkeit für alle conati begibt. Und wie immer, motiviert mich Dewey dazu, diese Suche voranzutreiben: „Sie könnte die Interessen und Energien vereinen, die jetzt verstreut sind. Sie könnte dem Handeln eine Richtung geben und mit der Wärme des Gefühls das Licht der Intelligenz erzeugen.“ (A Common Faith, übers. H.S.)