„With no reprise -The sun will rise -The long day is over“ – Melodie und Text des Songs (Jesse Harris) sind eingängig, fast simpel. Auf Norah Jones‘ Album „Come away with me“ (Blue Note Records, 2002) müssen den Song Millionen Menschen gehört und womöglich die Worte mitgesungen haben. „Ohne sich zu wiederholen wird die Sonne aufgehen“ – anfangs paradox, klingt es beim mehrfachen Anhören zunehmend stimmig und richtig – ist es nicht so, dass unser Stern tatsächlich jeden Tag ein Stückchen weiter zu einer neuen Aufgangsstelle am Horizont rückt? Und die Musik trägt das Ihre dazu bei, um ins Ende des langen Tages den Keim eines neuen zu legen, aber dabei gleichzeitig die Aussicht auf die Möglichkeit eines endgültigen Endes offen zu halten.
Ich sitze am Kaminfeuer, höre Norah Jones und lese in Lewis Hydes Buch über das Vergessen. (Lewis Hyde: A Primer for Forgetting. Getting past the past. Edinburgh: Canongate 2019. Dt. „Eine Fibel des Vergessens“ – Eine deutsche Übersetzung ist allerdings nicht in Sicht.) Hyde schöpft aus vielen verschiedenen Quellen – Geschichten und Theorien, Strategien, Therapien, Gedichten, Aphorismen. Und er diskutiert eine Auswahl von Fallstudien – antike Tragödien, Bürgerkriege, rassistische und nationalistische Verbrechen, und einen Vergleich der Vergessenheitstheorien des Hl. Augustinus mit Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Ähnlich weit hatte er sein Netz auch im Buch „Die Gabe“ (2008) ausgeworfen, das mir vor Jahren die Augen über die Lage der Kunst in der kommerziellen Welt geöffnet hat. Man liest diese Studien so, wie ein Flaneur durch Walter Benjamins Pariser Passagen spaziert, – aufmerksam, amüsiert, manchmal hingerissen und nie gelangweilt, bis die Verhältnisse derart ausdauernd geschildert und hin und her gewendet sind, dass ihrer gegenwärtigen Wirklichkeit nicht mehr auszuweichen ist. Am Anfang seiner neuen Sammlung tiefschürfender Texte steht eine Liste von Aphorismen zum Thema „Vergessen“ (die erste von vieren). Zwei Sprüche fallen mir ins Auge und bleiben im Gedächtnis: „Im Vergessen liegt die Liquidation der Zeit“ und „Die Furien blähen die Gegenwart mit der unverdauten Vergangenheit auf“.
Beim ersten Spruch, wonach Zeit durch Vergessen liquidiert wird – verflüssigt, aber auch seit dem Stalinistische Wortgebrauch „umgebracht, aus der Welt geschafft“, kommen mir die Flüsse vor Augen, an deren Ufern ich gelebt habe, und ich beginne, die Gleichartigkeit des abstrakten Konzepts Zeit mit dem sinnlich erfahrbaren Ding Wasser zu begreifen.
Der zweite Spruch erinnert mich als Kind deutscher Eltern an den Holocaust. Ich weiss, dass ein Schuldvorwurf mich als Spätgeborenen nicht treffen kann, bin aber keineswegs sicher, dass dies auch den Furien bekannt ist. Bisweilen meine ich, ihr Zischen und Weinen aus dem Wind herauszuhören, manchmal spüre ich ihre Anwesenheit als interessiertes Lauschen, etwa sobald im Gespräch das Argument auftaucht, dass keine moderne Gesellschaft vor dem Umkippen in antizivilisatorische Verhaltensmuster gefeit ist.

„Furien“ nannten die Römer die Panik auslösenden Wesen, die vorher in Griechenland „Errinyen“ hiessen. Sie entstammen jenen uralten Zeiten, bevor noch Götter die Herrschaft übernommen hatten, – Zeiten, in denen das gesellschaftliche Leben an Regeln der Blutrache gebunden war. Lewis Hyde erzählt, wie es der Göttin Athene gelang, die Erinnyen in die Ordnung des Areopag einzubinden, mit dem Versprechen, ihnen anstelle des Bluts der Täter die jeweils ersten Früchte des Landes zur Nahrung zu reservieren. Auf diese Weise mutierten sie zu einer Art Fruchtbarkeitsgöttinen, in deren neuen Namen „Eumeniden“ – die Wohlgesinnten – für das Ironie-geschulte Ohr der Griechen noch ein Echo ihrer alten Rachsucht vernehmbar blieb. Falls sie durch diesen Schachzug athenischer Staatskunst ihren Biss verloren, war ihr Rückzug doch nur von vorübergehender Dauer. Und gleichzeitig erscheint ihre Herrschaft inzwischen irgendwie geschwächt, abgewandt von den grossen Kriegen und Völkermorden, und stattdessen deren Kollateralbereichen zugewandt. Vielleicht ist das einfach die Folge des anscheinend andauernd zunehmenden schieren Volumens von Massakern. Womöglich erschwert die damit zusammen hängende Anonymität der Massenmorde ihren aufs Persönliche gerichteten Zugriff. Die Dramen von Aischylos und Sophokles erzählen ja familiengeschichtliche Katastrophen, in denen genau diejenigen Stellen der handelnden Personen entblösst werden, an denen die Erinnyen zubeissen. Orests Mutter bringt seinen Vater um, weil der die Tochter den Göttern zum Opfer geschlachtet hat, und Orest bringt daraufhin seine Mutter um – ein Familiendrama, wie dazu angelegt, die Erinnyen hervorzurufen. In diesem Fall sehen sich selbst die Götter veranlasst, Position zu beziehen. Aus unserer womöglich durch Bert Brechts Theater geprägte Sicht erscheint das Drama nach Art eines Lehrstücks ganz so aufgeladen, als ob der Fortgang dessen, was wir Zivilisation nennen, von der Lösung des persönlichen Problems des Orest abhinge: Wie können seine Alpträume zum Verschwinden gebracht werden? Bei allem Schrecken und Mitgefühl, das diese Tragödien auch bei uns Heutigen auslösen, wirkt die tragische Dimension auf uns wohl auch eher als eine Art Modell im stark verkleinerten Massstab. Bei dem sich mir jedenfalls aufdrängenden Vergleich mit der modernen Todesfabrik Birkenau, die den Herstellungsprozess des Produkts Massenmord optimierte, geraten die alten Tragödien auf ein Nebengeleise. An welcher Stelle der entpersönlichten Maschinerie sollten die Erinnyen zubeissen, wo hätten sie sich einnisten können?
An den gepflegten Wegen vor den Grabhügeln in Bergen-Belsen sind Täfelchen angebracht, auf denen geschätzte Zahlen der dort zusammengekarrten Leichname stehen: 3000, 5000, 10 000. „Man müsste die Erde über den Toten wegschieben“, sagt Freund Emanuel, „und Glasplatten einsetzen, so dass alle die Gebeine sehen“. Das würde die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens vor Augen führen. Aber Anne Franks Gebeine würden wir nicht herausfinden. Ob Erinnyen ähnlich wie Menschen das Gegenüber einer Person brauchen, – sie, um Rache zu üben, wir, uns zu verneigen? Sechs Millionen ermordete Personen: Die Erinnerung, so scheint es, ist durch die Anonymität des Mordes gleich mit liquidiert worden. Was da angelaufen ist, läuft in vielerlei Varianten weiter. Menschen erweisen sich bei derlei Projekten als überraschend gelehrige Schüler. Man lernt, einen Hebel umzulegen und dabei nonchalant in Kauf zu nehmen, dass die durch den Handgriff ausgelöste Detonation eine Stadt auslöschen und einige Zehntausend Menschen umbringen wird: Weit weg, nix Persönliches.
Lewis Hyde hat im Abschnitt mit dem lapidaren Titel „Nation“ Beispiele zusammen getragen, in denen er gewissermassen dem Wirken der Erinnyen im Kollateralbereich des grossen Mordens nachgeht. Dort, wo Namen und Gesichter der Opfer und Täter sichtbar werden, macht es Sinn, Schuld und Sühne zu ermitteln, und Rache oder Vergebung zu üben, um jenes Vergessen zu begründen, das einen neuen Tag ermöglicht. Hyde sucht dabei nach Belegen für seine Vermutung (er selbst nennt sie „ein Gedankenexperiment“), dass Vergessen der Fortführung des Lebens besser zu helfen vermag als Erinnerung.
Um den Faden weiter zu spinnen, den ich aufgegriffen habe, weil mir die Holocaust-Erinnerung einst als unabdingbares Gebot erschienen ist, greife ich als erstes die damit korrespondierenden Passagen seines Buches auf. Er greift Elie Wiesels Darstellung des Holocaust als letztendlich unbegreifliches Ereignis auf. Dem Verständnis entzogen, aus der Zeit gefallen und dem Zugang der kognitiven Instrumente verschlossen, kommentiert Hyde, sei dies grosse Übel bei Wiesel in eine transzendente Sphäre gehoben. Während das Böse an sich als ein „letztendliches Geheimnis“ (philosophisch als metaphysische, theologisch als transzendente Grösse) aufgefasst werden könne, treffe dies auf den Holocaust nicht zu: Der müsse als eine Inkarnation des Bösen aufgefasst werden. Um unerwartete Erscheinungsformen zu erkennen, die als neue Inkarnationen in ganz anderen Varianten begegnen, empfiehlt es sich, den Holocaust so zu studieren, dass die spezifische Erscheinungsform ermittelt und im Vergleich mit anderen Massenmorden bestimmt werden kann. Der Vergleich, den Wiesel als unangemessen zurückgewiesen hat, ist womöglich die stärkste Kraft, die uns als vernünftige, das Instrument der Wissenschaft nutzende Wesen zur Verfügung steht.
Der Prozess der Erkenntnis fördert vielleicht keine zeitunabhängig geltenden Wahrheiten zutage- etwas, das der Form nach Wiesels Unvergleichbarkeits-Maxime des Holocaust Vergleichbares -, sondern ist selbst zeitabhängig und wandlungsfähig. „Erinnern, damit Auschwitz nicht noch einmal sei“, war das Gebot einer historischen Phase, in der politische Kräfte das Geschehene durch Vergleiche zu verwässern und durch Nicht-Gedenken, Nicht-einmal-Erwähnen aus der Welt zu schaffen suchten. Inzwischen ist die Erinnerungs- und Gedächtnis-Maxime zu einem eigenen wirtschaftlich mit öffentlichen Geldern ausgestatteten Betrieb geworden, mit eigenen Karrierechancen. Dort hat sich ein spezifischer Diskurs entwickelt, der, so weit ist sehe, vom guten Sinn des Gedächtnis-Unternehmens überzeugt ist. So weit diese Überzeugung unbefragt bleibt, besteht die Gefahr, dass sie im Fluss der Zeit nicht fortzubestehen vermag.
Hyde führt Ruth Klüger an, die in einem Aufsatz mit dem Titel „Forgiving and Remembering“ deutlich ablehnende Worte findet für die Zumutung eines Erinnerungs-Transfers. Unter den zahlreichen ins Deutsche übersetzten oder auf Deutsch verfassten Texten von Ruth Klüger habe ich diesen Aufsatz nicht gefunden. Deshalb übersetze ich hier einige Sätze, die mir angesichts der vorherrschenden Erinnerungskultur einigermassen revolutionär (und notwendig) erscheinen:
„Ich denke, Vergebung ist eng mit dem Fluss der Zeit verbunden. Wir sprechen von den Tugenden des Gedächtnisses, aber Vergesslichkeit hat ihre eigene Tugend. … Es besteht ein Gedächtniskult, der unseren Kindern bestimmte Aspekte der Geschichte und deren vorgebliche Lehren aufzuzwingen sucht. Dessen bevorzugtes Mantra ‚Lasst uns erinnern, damit dasselbe nicht wieder geschieht‘ überzeugt nicht. Ein erinnertes Massaker kann zur Abschreckung dienen, aber es kann auch als Vorbild für das nächste Massaker dienen. Wir können unseren Enkelkindern den Inhalt unseres Verstands nicht auferlegen. Sie werden erinnern, was sie brauchen, und den Rest vergessen.“ (Ruth Kluger: Forgiving and Remembering. In: „Publications of the Modern Language Association of America“ 117, no 2, March 2002; auch: Hyde, p. 205)
Man liest es als warnende Fortführung von Klügers Argumentation, dass Hyde sich anschliessend in eine Schilderung des Falles „Kosovo und gewähltes Trauma“ vertieft. Dabei geht es um das Datum 28. Juni 1389: den Tag der Schlacht auf dem Amselfeld, bei der das Heer der orthodox-christlichen Serben vom Heer des Ottomanischen Imperiums vernichtend geschlagen wurde und die serbische Vormachtstellung auf dem Balkan verloren ging. Leichnam und Kopf des serbischen Führers Lazar wurden im Kloster Fruska Gora nordwestlich Belgrad beigesetzt, die verlorene Schlacht selbst aber verwandelte sich zu einem „auserwählten Trauma“ (chosen trauma): „einer identitätsbildenden Katastrophe der Vorfahren, in deren Erinnerung sich tatsächliche Geschichte mit leidenschaftlichem Gefühl und hoffnungsträchtigen Opferphantasien mischen“ (p. 207). Kein Zufall, dass das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand, das heute als Auslöser des Ersten Weltkriegs gilt, an einem 28. Juni verübt wurde (dem 525. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld). Und kein Zufall, dass 1992 im Völkergemisch von Bosnien-Herzegowina serbische Bewaffnete ihre muslimischen Nachbarn zu massakrieren begannen: Der serbische Anführer Milosevic hatte in verschiedenen Ansprachen Lazars irdische Niederlage als einen himmlischen (ewigen) Sieg gedeutet. Hyde zitiert daraus den kaum glaublichen Satz: „Das Heldentum vom Kosovo hat unsere Kreativität über sechs Jahrhunderte inspiriert, hat unseren Stolz genährt und erlaubt uns nicht zu vergessen, dass wir einmal eine grosse, tapfere und stolze Armee waren, eine der wenigen, die auch dann ungeschlagen bleiben, wenn sie verlieren.“ (zitiert auf Englisch von Hyde S. 209)
Hyde erinnert daran, dass während des von Serben verübten Genozids in den Neunzigerjahren Hunderttausende Muslime und Kroaten aus ihren Dörfern vertrieben wurden. Dass serbische Kämpfer Tausende von Frauen vergewaltigten. Dass in der Stadt Srebrenica mehr als achttausend muslimische Männer und Jungen ermordet wurden. Er gibt zu bedenken, wie Trauer gemeinhin im Lauf der Zeit das Verlorene in Erinnertes verwandelt und wie nach 600 Jahren auch die meisten Erinnerungen verblasst sein werden. Nicht so, wo die Wunde eines Traumas durch endlose Trauer offen gehalten wird: Da ist das Trauma dem Fluss der Zeit enthoben. Es dient dazu, die eigene Identität durch endlose Trauer zu bewahren. Wie ein Knoten im Blutstrom, ein Stau im Fluss. Wahrscheinlich geht es im Kern unseres Problems darum, das Trauma von Leid und Schuld aufzulösen, es dem Strom der Zeit auszusetzen und der traumatischen Erinnerung zu gestatten, im Wasser der Flüsse aufgelöst zu werden.
Rachel Rosenbergs Warnungen davor, mich auf das Holocaust-Erinnerungsprojekt einzulassen (geschildert in „Vergessen“), passen zu der Argumentationsspur, die anhand von Hydes Befunden sichtbar wird. Ich nehme allerdings an, dass Rachel nicht aufgrund der Argumente von Akademikern oder in anbetracht historischer „Chosen Trauma“-Beispiele zu ihrer Vergessens-Empfehlung kam. Da war ihr offenbar Trauma-geschädigter Sohn, und die eigene Erfahrung, dass die dauerhafte Konfrontation mit der Erinnerung eine Sackgasse ist. Du kommst nicht weiter, du kommst nicht mehr heraus. Ich stelle mir vor, dass sie als gute Mutter alles, was dem Fortgang des Lebens dient, erkannte. Sie hat wohl ausserdem für sich einen Weg gefunden, um dem Vergessen zu gestatten, sich zu entfalten, ähnlich wie jemand, der über Jahre hin von Schlaflosigkeit geplagt wird, das Geschenk eines langen und tiefen Schlafes haben kann, wenn er den tiefsten Schichten seines Bewusstseins gestattet, was zwanghaft auftaucht, loszulassen.
Hyde entwickelt die Bedingungen der Möglichkeit des Vergessens anhand von Beispielen. Bestimmte Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit als Voraussetzung eines friedlichen Fortgangs des sozialen Lebens das heilsame Vergessen einkehren kann. Er legt sogar eine Art To-Do-Liste vor, deren einzelne Posten dafür erfüllt sein müssen: „Wahrheit“, „Gerechtigkeit“, „Bitte um Vergebung“, „Vergebung“, „Reparationen“, „Begräbnis“.
Seine Beispiele entstammen weit voneinander entfernten Kontexten: zwei amerikanische Fälle, kollateral verbunden mit den grossen Themen der Eroberung des Westens und des rassistischen Nachhalls („Jim Crow“) der Sklaverei in den Südstaaten, dann die Amnestie-Politik Spaniens nach Franco und die Arbeit der Truth Commission zur Bewältigung der Verbrechen während der Apartheid-Zeit in Südafrika.
Hyde beschreibt Folter und Ermordung von Henry Dee und Charles Moore, zwei schwarzen Jungen durch die Ku Klux Clan-Angehörigen Charles Marcus Edwards und James Ford Seale im Jahr 1964 derart detailliert, dass mir eine wie auch verkürzte Wiedergabe unerträglich ist. Jahrzehnte später kommt es nach dem Fund der Leichen der beiden Jungen im Mississippi zu einer Gerichtsverhandlung. Edwards bringt – im Tausch gegen ihm zugestandene Immunität – als Zeuge der Anklage alles ans Licht, Seale wird im Jahr 2007 verurteilt und stirbt vier Jahre später im Gefängnis. Während der Gerichtsverhandlung bittet Edwards darum, die Familie von Charles Moore, eines der beiden Opfer, ansprechen zu dürfen, und fleht dann um ihre Vergebung. Thomas Moore, der grosse Bruder, Scharfschütze in der Armee, von den Vorstellungen des Leidens seines kleinen Bruders verfolgt, verhandelt mit den anderen Familienmitgliedern, und spricht Edwards schliesslich seine Vergebung aus. Bei einigen der Gespräche zwischen Moore und Edwards in den folgenden Jahren ist Hyde selbst dabei, er zitiert und analysiert Tonaufzeichnungen. Moore versichert ihm, dass er selber Frieden gefunden habe und nicht mehr von Alpträumen gequält sei, und dass auch sein toter Bruder in Frieden ruhe. Hyde kann nicht alle dieser Aussagen nachvollziehen. (Beim Lesen spüre ich sein fortwährendes Misstrauen.) Aber am Ende gesteht er Thomas Moore zu, als dazu einzig Berechtigter seine Vergebung aussprechen zu dürfen. Typisch an dieser Geschichte scheint mir, dass sie im rassistischen Umfeld von Sklaverei und Bürgerkrieg spielt, in der kleinen Zelle einer quasi familiären Situation, in der ausser Tätern und Opfern auch die Erinnyen zu Hause sind. Was sie in diesem Fall vertreibt (oder zu vertreiben scheint), ist die Übung eines christlich geprägten Vergebungs-Musters. Die Wahrheit ist ans Licht gekommen, der Gerechtigkeit wurde in einem zweiten Anlauf Genüge getan, unter den Bedingungen eines Zeugen der Anklage, der selbst ein Haupt-Täter war, dem aber Immunität gewährt wurde. Man scheut sich, den Verdacht zu äussern, dass Edwards, der inzwischen einer eigenen Kirchengemeinde vorsteht, die Bitte um Vergebung womöglich als Anwendung seines kirchlichen Repertoires einfiel. Ich empfinde beim Lesen ein Gschmäckle von Scheinheiligkeit, aber Thomas Moores Vergeben hat zumindest ihm selber den Frieden des Vergessens gebracht.
Das Massaker an siebenhundert unbewaffneten Männern, Frauen und Kindern der Cheyenne und Arapaho, das die Kavallerie unter Colonel Chivington am 29. November 1864 am Sand Creek in Colorado anrichtete, wird seitens der Nachkommen der Täter als „eine der bedauerlichen Tragödien bei der Eroberung des Westens“ bezeichnet. Der Satz steht auf der Plakette des Obelisken an einer Stelle, die der Cheyenne Schamane Cometsevah in den Siebzigerjahren als Schlachtort identifizierte: Er hörte dort das Weinen der Kinder und die Hilferufe der Frauen. Hyde resümiert die Diskussion, die in der Öffentlichkeit seit den 1860er Jahren bis zur Gegenwart läuft. „Wenn meine Notizen Momente eines Gedankenexperiments festhalten, bei denen Vergessen weiter führt als Erinnerung, dann ist es in diesem Fall gescheitert“ (p. 180) Dass Landrechte, die von der Regierung als Reparation vertraglich zugesichert wurden, bis heute nicht gewährt worden sind, verletzt eine der von Hyde identifizierten Bedingungen („Reparation“), aber noch fataler ist der Anspruch der Eroberer, die Geschichtsschreibung – wie sie auf Plaketten, Monumenten und in Lehrbüchern erscheint – unter Ausschluss der Cheyenne zu bestimmen. Dies Versagen korrespondiert mit der Bedingung „Wahrheit“. Aber auch der Punkt „Begräbnis“ bleibt hier unerfüllt, weil Skalps und Hoden der Indianer offenbar immer noch in Museen und Privatsammlungen aufbewahrt werden.
An dieser Stelle unterbreche ich die Webarbeit an diesem Text. Als nächstes wäre zu untersuchen, ob Hydes To-Do-Liste an den von ihm gewählten Beispielen Franco-Spaniens und des Apartheid-Regimes Südafrika weiter hilft. Ich werde mir ausserdem den Dreissigjährigen Krieg und die Bestimmungen des „Westfälischen Friedens“ (1648) vornehmen: „Vergessen III“!