Ein Igel-Dilemma

Der Maler Hans Hoffmann (1530 – 1592) verehrte Albrecht Dürer (1471 – 1528) so sehr, dass er eine Reihe von Bildern in Dürers Stil malte und Dürers Namenszeichen in das Bild einsetzte, nicht nur den berühmte Hasen Dürers, der bei Hoffmann im Walde sitzt, sondern Tiere, die Dürer nie gemalt hatte, Kaninchen, Heuschrecke, Frischling, Frosch, Katze, Pudel und Eichhörnchen. Kunstsachverständige hielten sie bis in die Neuzeit für Originale des älteren Malers. Ein Igelbild Hoffmanns, mit Wasserfarbe und Gouache auf Pergament wohl vor 1584 auf Pergament gemalt, ist heute im Metropolitan Museum in New York ausgestellt.

Hans Hoffmanns Bild eines Igels, Nürnberg vor 1584, Aquarell und Gouache auf Pergament, Metropolitan Museum New York

Dort im „Met“ hat der Dichter William S. Merwin dies Bild wahrscheinlich betrachtet. Unter dem Titel „Identity“ beschreibt er die Anverwandlung der Malers Hans Hoffmann an seinen Gegenstand im Sinne einer tiefen Annäherung an das Wesen des anderen Lebewesens: Hans war gewohnt, so wie die anderen Maler tote Tiere so zu arrangieren, als ob sie lebendig seien. Aber dieser Igel war da „in demselben Leben wie sein eigenes ihn anschauend mit seinem Kamelhaarpinsel und dem aufgespannten Pergament aus Schafsleder wie er sich jedem einzelnen scharfen Stachel zuwandte und jedem schwarzen Schnurrhaar auf der langen zuckenden Schnauze und diesen flachen Fussklauen gemacht nur zum Herumtrollen und zum Tasten entlang der dunklen Unterseite von Steinen und wie Hans dies alles aufnahm wurde er zu dem Hans den wir sehen würden.“ (Aus: The Moon Before Morning, Übers. H.S.)

Sich einlassen führt zu einer Verwandlung, einer Ausweitung der eigenen Identität. In den ersten beiden Zeilen des Gedichts lässt Merwin kaum einen Zweifel an dieser Interpretation: „When Hans Hoffmann became a hedgehog somewhere in a Germany that has vanished…“

Heute haben Elisabeth und ich den Igel begraben, der unser Denken über die letzten vergangenen Tage beanspruchte. Er kam uns näher, als wir wollten, und wir mussten lernen, unsere eigene Ohnmacht zu akzeptieren. Vor zwei Wochen erst sahen wir ihn zum ersten Mal, da hatten sich im Dämmerlicht der späten Abends an der Vogel-Futterstelle unter dem alten Apfelbaum zwei Igel und ein Waschbär getroffen in unfreiwilliger Kooperation und Konkurrenz um die ausgestreuten Haferflocken. Reaktionen auf das Smartphone-Video reichten vom entzückten „Wie süss“ bis zum entrüsteten „Wie könnt ihr nur einen Waschbären füttern!“ Am vergangenen Mittwoch humpelte der Igel mühsam morgens unterm Apfelbaum herum, am Donnerstagmittag sass er regungslos im Gras, Elisabeth sah, dass eine Seite des Kopfes mit einer Traube vollgesogener Zecken bedeckt war. Mit schweren Gartenhandschuhen konnten wir ihn so drehen, dass wir nacheinander sechs Zecken mit einer Pinzette herauszuziehen schafften. Es war mühsam, der Hals war von einem Dutzend grünschillernder Fliegen bedeckt, die ihre Eier an den blutenden Stellen ablegten, und einige Flöhe kletterten zwischen den Stacheln an der Kopfkrause umher, das Tier biss mit seinem freieckigen Maul in die Richtung, in der die Fliegen es umschwebten, und weder Elisabeth noch ich konnten die blutgefüllten Zecken hinter beiden Ohren erreichen, weil der kleine Kerl die stachelbewehrte Stirn blitzartig einzog.

Was ihn schützte, die Stachelrüstung, machte ihn schutzlos gegen Flöhe und Fliegen: Eine Variante des Igel-Dilemmas, das auf die berühmte Stachelschwein-Parabel von Schopenhauer zurückgeht. Der Philosoph hatte das Problem der Stachelschweine als das der angemessenen Distanz erzählt und auf Menschen übertragen: Entweder sie rücken einander nahe, so dass sie in der Kälte weniger frieren, dafür aber sich gegenseitig umso heftiger stechen, oder sie halten Abstand und frieren.

Elisabeth, die das Glück hatte, Igel einmal beim Kopulieren zu beobachten, sagt, dass die Igelfrau ihre Stacheln vollkommen flach anzulegen versteht, so dass sie fast wie ein Felltier erscheint. Vielleicht ist in dieser biologischen Information auch die Idee für eine weitere Antwort auf das philosophische Dilemma Schopenhauers enthalten. Die Spannung zwischen Distanz und Nähe bleibt trotzdem ein Grundmuster, das nicht nur zwischen Igeln oder Menschen gilt, sondern auch zwischen Igeln und Menschen. Deswegen scheint mir, dass Elisabeth und ich dem Igel allzu nahe kamen, als wir beschlossen, ihn zum Tierarzt zu bringen. War es übertriebene Fürsorge? Welchen Preis zahlt man dafür, sich auf ein leidendes Tier einzulassen?

Der Tierarzt nannte unsern Igel einen feinen Kerl, gab mir einen ledernen Handschuh, mit dem ich das Tier auf dem Bauch festhielt, während er mit dem andern Handschuh die Stirn zurückbog und vier weitere erbsengross vollgesogene Zecken hinter den Igelohren herausdrehte. Er sprühte Desinfektionsmittel auf die eigene Hand und verteilte es über die Stacheln, damit es auf die Haut herabträufele. Die Haut des Igels war tiefschwarz, seine Klaue war wie eine kleine Bärentatze, er hielt die Augen fest geschlossen, aber wir meinten, ihn manchmal blinzeln zu sehen. Ich fragte mich, ob er Schmerzen empfand, und als ihm der Tierarzt eine Spritze mit Antibiotika verabreichte, zuckte er nicht.

Am Nachmittag lag er auf dem Linoleumboden in der Küche, leckte an der flüssigen Pfütze eines Hühnereis und frass an einer Banane, um dann bewegungslos zu schlafen, bis es dunkel wurde. Da kratzte er an der Tür, und Elisabeth trug ihn unter den Apfelbaum. Am Freitagmorgen hatte er sich nur ein paar Fuss weit in das Grünzeug am Zaun hinein entfernt, und abends zwei Handbreit weiter unter einen buschigen Farn. Wir schauten ab und zu nach ihm: Bewegt er sich? Atmet er noch? Der Vergleich unseres Igels mit Schrödingers Katze war ein hilfloser Witz. Abends spekulierten wir darüber, ob ers durch die Nacht schaffen würde. Manchmal erschien, ziemlich übertrieben, aber doch virulent, eine Art Verwandtschaftlichkeitsgefühl: Waren nicht auch wir alt, und war es zumal in diesen Covid-19 Pandemie-Zeiten nicht nur ein Quentchen blindes Glück, das es uns gestattete, noch am Leben zu bleiben?

Heute am Sonntag war er hart und starr. Als wir ihn begruben, wieder ein Dilemma: Ist es richtig, ein Foto aufzunehmen? Ich zögerte, vielleicht eher aus Scheu, einem alten Erbe der Jägerkulturen, als aufgrund einer ethisch begründeten Position. Aber dann griff ich doch zum Apparat, vielleicht eher um ein Souvenir zu behalten, als aufgrund irgendeiner wissenschaftlichen Rechtfertigung.

Und ja, es gibt eine Lücke. Wir sprechen über das Aufblühen der Lilien, über das erneute Balzgehabe der Stare, den Geschmack der ersten Augustäpfel, aber in dem, was wir nicht sagen, ist die Spur dieses Igels enthalten.

Hinterlasse einen Kommentar