Sieben Generationen. Wie weit reicht unser Einfluss?

Im letzten Kapitel ihres weltumspannenden Buches „Timefulness. How Thinking like a Geologist Can Help Save the World“ zitiert Marcia Bjornerud Gedanken und Vorschläge zur Überwindung der falschen Zeitvorstellungen, die uns in unserer Zeit – in der erdgeschichtlichen Phase des Anthropozän – beherrschen. Sie selbst folgt mit ihrem Buch der Idee, dass wir durch das Studium der Erdgeschichte Zeiträume betreten, die nur auf den ersten Blick scheinbar endlos sind. Wir können Überschaubarkeit gewinnen und die Entwicklung des Planeten als eine Art „Bildungsroman“ verstehen lernen. Die physischen Rhythmen und Muster der Welt sind ihrerseits im Lauf der Zeit durch den Einfluss von lebenden Organismen gestaltet worden, so dass die Geschichte der Erde mit der des Lebens verflochten erscheint. Bei der neuen Spielart der alten Wechselwirkung, in der unsere hominine Art, in der Welt zu sein, diese Gestalt zerstört, bietet einzig Umkehr eine Chance auf Rettung. Ein Zeitgefühl, das uns selbst einschliesst, könnte dabei helfen, den notwendigen Gesinnungs-Wandel herbeizuführen. Bjornerud nennt diese Variante „Timefulness“. Sie meint damit eine Veränderung unseres Zeitbewusstseins im Sinne des buddhistischen „sati“ – engl. „Mindfulness“, dt. Achtsamkeit“. Das Wort „Zeitbewusstheit“ (auf dem Titel der deutschen Ausgabe) ist der tapfere Versuch der Wiedergabe des auch im Englischen kaum bekannten und womöglich unübersetzbaren „Timefulness“ auf Deutsch. (Marcia Bjornerud: Zeitbewusstheit. Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten. Übersetzung: Dirk Höfer. Berlin: Mattes & Seitz 2020; Engl. Ausgabe: Timefulness. How Thinking Like a Geologist Can Help Save the World. Princeton Univ. Press 2018)

Auf dem Wege zur Timefulness folgt Marcia Bjornerud dem Pfad der wissenschaftlichen Erkenntnis. Sie ist eine grandiose Lehrmeisterin, ich habe beim Lesen ihren Witz, ihre Anspielungen genossen und viel Neues gelernt. Doch trägt sie auch alte Vorschläge in die Erörterung der aktuellen Problematik hinein. Es sei doch nicht ohne Ironie, schreibt sie am Ende ihres Buchs, dass genau jene „Wilden“, deren Weltvorstellungen einst als primitiv abgetan wurden, in Zeiten der Krise zu Wortführern einer umweltgerechten und naturerhaltenden Lebensweise werden. Sie nennt das Beispiel des „Sieben-Generationen-Prinzips“ der Irokesen-Konföderation. Tatsächlich ist die Irokesen-Idee auch im deutschen Sprachraum als eine Art Schlüsselkonzept verbreitet: Wer immer vorausschaut und plant, soll sieben Generationen weit in die Zukunft blicken. Im Internet finde ich zahlreiche Einträge in diesem Sinn, allerdings (und irgendwie passend als Illustration des tatsächlich vorherrschenden durchkommerzialisierten Zustands) durchmischt mit Annoncen für Reinigungsmittel der Firma Unilever unter den Namen „Sieben Generationen“ bzw. „Seventh Generation“.

Ich schaue nach im „Gayanashagowa“, dem Text des Grossen Verbindlichen Gesetzes, das die (mehr als 500 Jahre) alte Verfassung der Irokesen-Konföderation darstellt, die von einigen sog. Gründervätern der USA bewundert wurde. Wie ich bei Gesprächen mit amerikanischen Freunden öfters höre, habe die Irokesen-Verfassung die amerikanische Verfassung stärker beeinflusst als europäische Vorbilder. Im Abschnitt 28 geht es um das Ritual der Einsetzung eines „Lord“ – wieder ein Wort, das wegen seines Kontexts schwierig zu übersetzen ist: „Häuptling“ wäre doof, und „Herr“ bezeichnet in der Sprache der Kolonisatoren ein Verhältnis, das in der Föderation so nie gegeben war. Seis drum. Hier ist am Ende eine Passage, die das „Sieben-Generationen-Prinzip“ anzusprechen scheint, auch wenn da von „sieben“ keine Rede ist. Es ist der letzte Satz des folgenden von mir aus dem Englischen übersetzten 28. Gesetzes-Abschnitts. Ich bitte um Nachsicht für die Wiedergabe des gesamten Abschnitts: Womöglich hätte der letzte Satz genügt. Wahrscheinlich empfinde ich den Text als besonders schön und klar, weil ich seit langem ein Faible für diese „First Nation“ Kultur hege. (Noch immer singe ich – beim Autofahren – laut mit beim „Stomp Dance (Unity)“ der Six Nations Women Singers aus Robbie Robertsons alter (1996) CD „Contact from the Underworld“.)

Irokesen-Konföderation: Herrscher der fünf Irokesen-Nationen (Cayuga, Mohawk, Oneida, Onondanga, Seneca) versammelt beim Dekanawidah etwa 1570. Französischer Stich aus dem frühen 18. Jahrhundert. Im Jahr 1722 wurde die Nation der Tuscarora in die Konföderation aufgenommen, seither: Six Nations. (From Second Annual Report of the Bureau of Ethnology to the Secretary of the Smithsonian Institution, 1880-1881, edited by J.W. Powell, 1883)

28. Soll ein Kandidat als Herr eingesetzt werden, so muss er vier spannenlange Muschel- oder Wampum-Schnüre liefern, die am einen Ende zusammengebunden sind. Sie belegen sein Versprechen gegenüber den Herren der Konföderation, dass er im Sinn der Verfassung des Grossen Friedens leben und bei all seinen Handlungen Gerechtigkeit üben wird. Ist das Versprechen gegeben, so muss der Sprecher des Rats die Muschelschnüre in der Hand halten und die Seite gegenüber dem Ratsfeuer ansprechen. Er beginnt seine Ansprache mit den Worten: „Nun schaut ihn an. Er ist jetzt ein Herr der Konföderaton geworden. Schaut nur, wie prachtvoll er aussieht.“ Darauf folgt die Rede. Am Ende übergibt er das Bündel Muschelschnüre an die gegenüberliegende Seite. Dort werden sie als Erweis der Eidesgeltung aufgenommen. Darauf hin wird die gegenüberliegende Seite sagen: „Wir krönen dich jetzt mit dem heiligen Zeichen des Hirschgeweihs, dem Hoheitszeichen deiner Herrschaft. Die Stärke deiner Haut sei fünf Spannen mächtig – womit gesagt sei, dass du vor Ärger, vor Angriffen und vor Kritik geschützt bist. Dein Herz soll mit Frieden gefüllt sein und voll von gutem Willen, und dein Kopf voll vom Streben nach dem Wohlergehen des Volkes der Konföderation. Mit endloser Geduld wirst du seine Pflichten erfüllen und deine Härte wird wird durch Zärtlichkeit für deine Leute gedämpft werden. Weder Ärger noch Wut sollen sich in deinem Sinn einnisten, und all deine Worte und Taten sollen aus ruhiger Überlegung folgen. Bei all deinen Beiträgen im Rat der Konföderation, bei deinen Mühen um die Gesetzgebung, in all deinen offiziellen Handlungen soll Eigeninteresse vergessen sein. Wirf die Warnungen von Nichten und Neffen nicht über deine Schulter hinter dich, wenn sie dich wegen eines Irrtums oder eines Fehlers schelten sollten, sondern kehre zurück auf den Weg des Grossen Gesetzes, das gerecht ist und richtig. Verfolge und lausche dem Wohlergehen des ganzen Volkes, und halte nicht nur die Gegenwart im Blick, sondern auch die kommenden Generationen, selbst die, deren Gesichter noch unter der Oberfläche des Bodens sind – die Ungeborenen der zukünftigen Nation.“ GAYANASHAGOWA Constitution of the Iroquois Nations The Great Binding Law)

Dafür, dass alle Welt von sieben Generationen redet, die indes in diesem Text so gar nicht vorkommen, bietet Marcia Bjornerud eine interessante Vermutung: Sieben Generationen seiner eigenen Familie sind es, die ein Mensch zu sehen hoffen darf – Urgrosseltern, Grosseltern, Eltern, Geschwister, Kinder, Enkel, Urenkel. (Plausibel in meinen Augen immer noch, obwohl ich meine Urgrosseltern nie gesehen habe, jedoch selber Urgrossvater geworden bin.) Diese Deutung der Siebenzahl verringert allerdings die Zahl der kommenden Generationen mit Anspruch auf meine Weitsicht: Statt sieben hätte ich das Wohlergehen von lediglich drei Nachgeborenen-Wellen im Blick – von Kindern, Enkeln und Urenkeln. Im übrigen als eine Art Balance behielte ich das Leben meiner Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern im Gedächtnis, vielleicht auch als heilsame Erinnerung an die Härten des Schicksals, wie mir scheint. Ich gebe zu, dass mich diese Variante des neuen (von Robert Macfarlane vertretenen) Gebots „Sei ein guter Vorfahr!“ erleichtert: Ich bin nicht mehr unmittelbar zuständig und verantwortlich für ferne Nachfahren, die weiss Gott mit welch monströsen Umständen zu tun haben werden. Aber mit Kindern, Enkeln und vielleicht auch Urenkeln kann ich reden, und ich kann darauf vertrauen, dass mein Verhalten und meine Weltsicht in ihrem Gedächtnis bleiben und womöglich auch in ihrem Verhalten eine Spur hinterlassen werden.

Dass ein eifernder Gott die Missetat der Väter (Anbetung falscher Götter) bis ins dritte und vierte Glied heimsucht (2. Mose 34: 7), erklärte mir Anne Wolfson Wangh bei Gelegenheit eines Gesprächs mit ihrem Mann Martin Wangh, dem bekannten Psychoanaytiker, folgendermassen: Der Fluch Gottes halte über so viele Generationen an, wie Menschen einander sehen und direkt miteinander zu sprechen vermögen. Die physische Präsenz der Menschen entscheide die Dauer des Fluchs. (In unserm Gespräch ging es um die Wirkungen des Holocaust auf die Nachfahren der Täter und der Opfer.) Demzufolge sind Kinder und Kindeskinder der Wirkung mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt, und mit geringerer Wahrscheinlichkeit auch noch die Urenkel, aber die Gegenwart der darauf folgenden Generationen ist vom Fortwirken des Verbrechens frei. Ich frage: Weshalb sollte, was für die Dauer der Busse von Missetaten gilt, nicht auch das Fortwirken von Verhaltensmustern bestimmen, die dem Leben dienen? Unsere gegenwärtige achtsame Lebensweise würde dann nicht nur unseren eigenen Fussabdruck in der Umwelt hinterlassen, sondern auch die Spuren unserer Kinder und Kindeskinder beeinflussen. Drei Generationen könnten wir durch das Beispiel unserer Gegenwart prägen, höchstens drei, weiter reichende Einflüsse wären allenfalls der Vermittlung durch Medien zuzuschreiben, als Predigten oder Influencer-Ansprachen, – Elemente im Angebot für Glasperlenspiele der Phantasie. Der tiefe, intensive Einfluss reicht demgegenüber nicht weiter als ins dritte und vierte Glied. Das muss genügen, um anzukommen.

Marcia Bjornerud 2018 („Wisconsin Life“ Sept. 19, 2018)

Bjorneruds Programm bietet eine Einführung in 4,55 (plusminus 70 Millionen) Milliarden Jahre Erdgeschichte mit dem Anspruch, die unter uns Zeitgenossen verbreitete Neigung zur Zeitvergessenheit zu ersetzen durch das Gefühl, irgendwie zu Hause zu sein in den mächtigen Zeiträumen. Also sich gleichsam in ihnen einzuwohnen als in einem vertrauten Gebäude, so dass der Gang durch die Fluchten, der Säle und Stuben mit ihren Winkeln und Erkern lauter bekannte Passagen bietet. Die Fremdheit der Welt, in der wir leben, soll allmählich ersetzt werden durch ein quasi familiäres Verhältnis: Timefulness. Wir lernen vor allem, dass nichts zeitunabhängig ist: Nichts dauert ewig, alles hat seine Zeit. Wasser zum Beispiel bleibt, bevor es verschwindet, 9 Tage lang in der Atmosphäre, 1-2 Monate im Boden, 2-6 Monate in Flüssen, 1-200 Jahre in Seen, 10-100 Jahre im flachen Grundwasser, 100 – 10000 Jahre im tiefen Grundwasser, 1000 Jahre im Ozean, 100-800000 Jahre in Gletschern, und Millionen von Jahren im Erdmantel. (Appendix IIB „Timefulness“)

Ich erfahre beim Lesen einiges über geologische Methoden der Zeitmessung, das mir neu ist. Manches klingt in den Zusammenfassungen ein wenig „technisch“, ist aber jeweils vorher ausgiebig erklärt, und ergibt ein überaus eindrucksvolles Bild vom wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt auf diesem Gebiet. Als Beleg folgende Passage:

„In den frühen 1970er Jahren hatten Altersbestimmungen für Meeresboden-Proben aus Tiefenbohrungen und die Korrelation der magnetischen Meeresboden-Daten mit den bekannten Daten von vulkanischen Sequenzen an Land einen neuen Weg zur Abgrenzung der geologischen Zeit geschaffen, und die geomagnetische Zeitskala wurde auf die biostratigraphische (Fossilien-basierte) und die geochronologische (Radioisotopen-kalibrierte) gepfropft. Heute, nachdem die Datierung für die Umkehrung jedes Magnetfeldes aufs genaueste eingegrenzt wurde, ist es möglich, das Alter eines Steines von irgendeiner Stelle des Meeresbodens zu bestimmen, ohne überhaupt eine physische Probe zu nehmen – durch einfaches Abzählen der magnetischen Streifen, um die er vom Grat entfernt ist.“ (p. 68, übers. H.S.)

Der offensichtlichste und vielleicht wichtigste Wesenszug der Naturwissenschaft – des naturwissenschaftlichen Verhältnisses zur Welt – ist es, alles zu messen. Die bekannte Maxime Galileos lautet: „Alles messen, was zu messen ist, und alles messbar machen, was nicht zu messen ist!“ Als aufmerksamer Zuhörer meint man, da auch die Verknüpfung zwischen Naturwissenschaft und Naturbeherrschung mit herauszuhören. Kein Zufall, dass Ölmagnaten und Stahlbarone (Rockefeller, Carnegie, Krupp) sich in der Geologie auskannten – so weit, dass sie es schafften, beispielsweise das seltene Eisenerz aufzuspüren, aus dem der beste Stahl produziert werden konnte. Kein Wunder, dass dies Material inzwischen abgebaut und verschwunden ist. Bjornerud erzählt, dass der Stahl „Tycoon“ (und spätere Philanthrop) Carnegie seinerzeit reicher war als Bill Gates, Sam Walton und Warren Buffett zusammen es heute sind, und dass die von Carnegies Unternehmen ausgebeuteten Eisenformationen in der Proterozoischen Ära der Erdgeschichte (zwischen 2,5 und 1,8 Milliarden Jahren) entstanden, als Cyanobakterien zum ersten Mal Sauerstoff in die Umwelt entliessen (was in dieser Anfangsphase zu Eisenstein von besonderer Dichte führte).

Die vielen Passagen ihres Buches, in denen es um Messmethoden und Messungen geht, richtet Bjornerud nicht an Ingenieure und Bergbauunternehmer. „Messen“ ist ihr kein Mittel zur Beherrschung oder zur fortgeführten Ausbeutung der Welt. Sie ermittelt Dauer und Beschaffenheit der Naturräume, um ein Narrativ zu errichten, das in einer Art Gründungsurkunde die Verflechtung des Lebens unserer Spezies mit dem Leben der Erde festhält und damit auch die Grundlage eines Verbundenheitsgefühls herstellt, das man, so scheint mir, „Erdpatriotismus“ oder „Planetenheimat“ nennen könnte.

Die Tätigkeit des Messens wird dabei als eine Art Kommunikation mit der Erde reformuliert: Es geht weniger darum, eine gegebene Grösse – die Mächtigkeit eines Flözes, das Alter eines Steines, die chemische Zusammensetzung eines Minerals – festzustellen, um sie irgendwelchen Zwecken verfügbar zu machen, als um die Ermittlung laufender Prozesse. Die Prozesshaftigkeit der Welt korrespondiert mit dem prozessbezogenen Blick dieser Wissenschaft. Bjornerud bringt es auf die schöne Formel: „Steine sind keine Substantive, sondern Verben – sichtbarer Beweis von Prozessen: einer vulkanischen Eruption, der Ansammlung eines Korallenriffs, dem Anwachsen einer Bergkette.“ (p. 209) Vielleicht ist es nicht übertrieben, hier den Ausgangspunkt für das dialogische Verhältnis zur Erde zu erblicken, das ihre Wissenschaft prägt. In diesem Dialog nimmt die Erde, wie mir scheint, und wie es ja der alarmierenden Lage der Dinge angemessen ist, eine mahnende Position ein. Genauer gesagt, Bjornerud vernimmt das, was die Erde spricht, als Mahnung. Am deutlichsten tritt dies bei einer Anekdote aus der Studienzeit der Verfasserin hervor, in der sie ihre Erfahrung einer Epiphanie beschreibt. Mit anderen Studierenden ist sie auf eigene Faust auf der Halde eines längst aufgelassenen Bergwerks unterwegs.

„Da entdeckten wir das, was Riesenkristall-Fanatiker (eine besondere Subkultur unter den Mineralogen) eine „Edelsteintasche“ nennen. Es war, als ob wir in die pastellfarbene Welt eines altmodischen Super-Ostereis getreten wären: Gigantische Kristalle aus weissem Feldspat waren mit Trauben von purpurfarbenem Glimmer und sechseckigen Prismen von rosa und grünem Turmalin dekoriert. Einige Turmaline waren perfekte Edelstein-Miniaturen von Wassermelonenscheiben mit dünnen grünen Rinden und rötlichen Innenteilen. Wir alle wurden sogleich von einer tiefsitzenden Gier erfasst, dem Zwang, uns so viel von diesen Reichtümern zu nehmen wie wir nur konnten. Wir hatten unsere Steinhämmer mit stumpfen Enden mitgebracht, die zum Zertrümmern von Steinen dienten, aber zum Abschlagen feiner Kristalle nicht geeignet waren. Ich schaffte es, ein paar kleine tiefrosa Turmaline abzubrechen, aber dann erspähte ich den Hauptpreis: Ein perfektes Wassermelonen-farbenes Kristall von 8 Zentimetern Länge. Es sass in einer schwer zugänglichen Ecke nah an der Grubendecke, – kaum Platz, einen Hammer zu schwingen, aber ich war entschlossen und wollte es haben. So schlug ich zu und stellte mir vor, wie ich die Trophäe zu Hause präsentieren würde, als ich sie, mit einem falsch angesetzten Hieb, zertrümmerte. In diesem Augenblick, so schien mir, wurde meine Sicht plötzlich klar, als ob ich einem bösen Bann entkommen sei, der uns beim Betreten der Edelsteintasche erfasst hatte. Mit einem Schlag verlor ich die Lust an diesem Unternehmen. Nach mehreren Jahren des Eintauchens in die Welt der Geologie hatte ich doch schon einen Sinn für Tiefenzeit entwickelt. Und ich erkannte, dass ich in einer Sekunde der Habgier leichtsinnig einen exquisiten Gegenstand zerstört hatte, der den dritten Teil der Geschichte der Erde bezeugte – das Meiste der Milliarde der Langeweile, die Schneeball-Erde, das Erscheinen der Tiere, die Perioden grossen Aussterbens, das Wachsen der Rocky Mountains. Die Szene der Verwüstung um mich herum, und meine Komplizenschaft dabei, machten mich krank.“ (p. 127/128 übers. H.S.)

Wikipedia: „Zonar grün und rot gefärbter Turmalin aus der Aricanga-Mine, São José da Safira im Doce-Tal in Minas Gerais in Brasilien (Größe: 9,5 cm × 4,0 cm × 3,1 cm)“ Rob Lavinsky, iRocks.com – CC-BY-SA-3.0

Das Echo dieser Episode durchschallt gewissermassen die Seiten des Buches. Die Moral dieser Geschichte ist seine Botschaft. Sie widmet den Epilog der auf Svalbard (Spitzbergen) eingerichteten Saatbank: Falls es – infolge menschlicher Hybris oder einer durch die Erde selbst ausgelösten Katastrophe – zum Ausfall der Landwirtschaft kommen sollte, könnte dieser schneebedeckte Hügel in der Arktis „zum Brotkorb der Welt“ werden. Sie endet das Buch mit dem Satz: „Jetzt müssen wir uns als Erwachsene zeigen und selbst navigieren, indem wir mit dem Atlas der Vergangenheit das Beste anfangen, um die lange verlorene Zeit aufzuholen.“ (p. 181, übers. H.S.)

Das Studium der Vergangenheit dient dem Zweck des Erhalts der Zukunft oder, wie es der Untertitel formuliert: „Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten“. Trotz des vorsichtigen „könnte“ (das Original formuliert zuversichtlicher: „How Thinking Like a Geologist Can Help Save the World“) ist es eine ziemlich schwere Last, die uns da als Bürde angetragen wird.

Der Philosoph John Dewey (1859 – 1952) hat daran erinnert, dass wir immer in der Gegenwart leben. Auch wenn wir in Gedanken und Bildern in Vergangenheit und Zukunft unterwegs zu sein scheinen: Streng genommen gibt es keine andere Zeit, in der wir da sind, als die Gegenwart. Wahrscheinlich ergäbe sich ein klareres Bild der Verhältnisse, wenn man diese Phase der tatsächlichen Präsenz herausstellen und einer besonderen Kategorie zuschreiben würde. Es muss ja zu Verwirrungen führen, wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als eine Art Zahlenstrahl betrachtet und als miteinander verrechenbare Grössen behandelt werden. Das gegenwärtige Sein füllt chronographisch nur einen Moment, gewiss. (In einem Kinderbrief fand ich den Satz „Gegenwart ist ein so langes Wort, dass sie schon vorbei ist, bevor es geschrieben ist.“) Aber dieser Moment enthält – im Unterschied zu Vergangenheit und Zukunft – eine Tiefendimension, in der ein dialogisches Verhältnis zum Vorschein kommt, wie es uns weder aus der Vergangenheit erreichen kann noch in zukunftbezogenen Vorstellungen anders als in Gestalt uneingelöster Versprechen aufzutreten vermag. Man vernimmt einen Anspruch, der das eigene Leben ausrichtet und bestimmt. So ist es Marcia Bjornerud in der „Edelsteintasche“ ergangen.

Es ist interessant, dies gegenwartsgebundene aber lebensbestimmende Moment anhand eines weiteren Beispiels zu betrachten. Der vor drei Generationen bekannte Geologe Hans Cloos (1885 – 1951) hat sein Geologenleben in dem Buch „Gespräch mit der Erde“ beschrieben. Der Titel bereits lässt eine Nähe zu Bjorneruds „Timefulness“ vermuten. Auch ihm widerfährt eine Offenbarungs-artige Begegnung, in der er den Anspruch der Erde vernimmt. Als 24jähriger, gerade promovierter Geologe ist er unterwegs für einen Forschungs-Auftrag nach Namibia (damals deutsche Kolonie) und reist mit der Bahn nach Neapel, wo das Schiff nach Afrika ablegen soll. Morgens öffnet er das Hotelfenster und sieht „die ganze Herrlichkeit des berühmten Bildes“.

„Aber nach oben war das Bild abgeschnitten durch eine lastende Wolkenbank. Schon wollte ich mich, halb enttäuscht, ins Zimmer zurückwenden, als mein Blick von einem hellen Schein über den Wolken angezogen wurde: Dort schwebte, frei in der Luft, wie mit der Schere geschnitten, im jungen Weiss des Winterschnees, der dreieckige Gipfel des Vesuvs, und aus seiner vertieften Mitte löste sich ein Wölkchen Rauch —. Also war es doch wahr! Jahre um Jahre hatte ich nichts anderes gelernt und gelesen als dies: Dass unsere alte Erde sich in unzähligen Formen gewandelt habe im Laufe ihrer endlos langen Geschichte. Dass das ganze bunte Angebot der Schichten und Gesteine aus der Vorwelt, der Gebirge unserer Gegenwart nichts anderes sei, als Werk und Erbe, Rest und Geschenk solcher Verwandlungen. Dass die Erde noch heute sich rege und dass jeden Tag, den wir leben, auch sie lebe und immer irgendwo an sich arbeite und überall und immer ihren alten Bestand ergänze und neue Stoffe und Kräfte den alten hinzufüge. Dass es nur eine Täuschung der Augen sei, zu glauben, die Erde sei fest und fertig nur noch im Kleinen und Äusserlichen veränderlich, und sei unerschütterliches Fundament allen menschlichen Planens und Bauens. Ich hatte die Lehre gehört und geglaubt; sie gegen Ungläubige verteidigt und unter argwöhnischen Prüfungen an strenge Richter zurückgegeben. Und nun musste ich in einem unbewachten Augenblick gewahr werden, dass ich nichts gelernt hatte, rein gar nichts; dass mir dies Fundament aller irdischen Weltanschauung nicht zum eigenen inneren Besitz geworden war. Niemals bis zu diesem einmaligen, unvergesslichen Augenblick, da ich es zum erstem Male mit eigenen Augen sah und also zum ersten und endgültigen Male zum Geologen wurde: Die Erde lebt!“ (Hans Cloos: Gespräch mit der Erde. Welt- und Lebensfahrt eines Geologen. Frankfurt a.M. : Büchergilde Gutenberg 1954. Lizenzausgabe des Piper-Verlags München im gleichen Jahr, S. 16/17)

Hans Cloos 1885 – 1951

Während der vier Generationen zwischen dem Lebenswerk von Cloos und dem von Bjornerud hat die Geologie ihr Geschäft der Datenerhebung präzisiert und – noch viel wichtiger – ihre Unschuld bei der Komplizenschaft des Abbaus der Erde verloren. Aber die Nähe zur Erde – als Gesprächspartner und Heimatraum – bezeichnet das Grundverhältnis beider Forscher. Und ist es nicht diese Nähe, die am Ende den Ruin des Ausbeutungsgeschäfts bedeuten könnte?

Beim Lesen der beiden Bücher finde ich eine Parallele, die mich ein wenig unheimlich anmutet, aber angesichts des Arbeitsfeldes doch folgerichtig erscheint: Beide akzeptieren und beschreiben Untergangs-Szenarien. Bjornerud weist darauf hin, dass die Sonne etwa die Hälfte ihrer Lebenserwartung hinter sich hat, und beschreibt die Vorstufen des Untergangs. Bereits 3 Milliarden Jahre, bevor die Phase des Roten Riesen erreicht ist, in dem die Erde und alle anderen Planeten von ihr erfasst werden, wird ihre stets zunehmende Strahlkraft die Erde derart erhitzen, dass die Ozeane evaporieren. Wenn das Wasser im Weltraum verschwunden ist, werden Vulkangase freigesetzt. Es wird derart heiss, dass die Voraussetzungen für Leben auf unserem Planeten fehlen. Schon viel früher, in etwa 80000 Jahren, könnte – nach den von Milankovich berechneten Sonnenzyklen – eine neue Eiszeit entstehen, aber ob es so weit kommt, hängt von der Konzentration der Treibhausgase und anderen von Menschen beeinflussten Variablen ab, die kaum zu berechnen sind. Es ist schon kaum möglich, das Geschehen für die nächsten tausend Jahre vorherzusagen. Sollten die Kohlenstoff-Emissionen nicht zurückgehen und womöglich im Klimasystem positive Verstärkungen auslösen, könnte die Erde eine Wiederholung des Wärme-Maximums im Paläozän erleben: Anstieg des Meeresspiegels um Dutzende von Metern, anhaltende Dürreperioden, häufigere und gewaltigere Sturmereignisse. (Abschnitt „Future Tense“, p. 172)

Bei Hans Cloos finde ich einen vergleichsweise kurzen Text „Haus der Steine“, der das Geologenleben des Verfassers in die Gestalt eines mit Mineralien und Fossilien und Merkwürdigkeiten vollgestopften Hauses überträgt. Teils Museum, teils Institut, enthält es Belege zur Erdgeschichte in Auszügen und Anekdoten aus der persönlichen Lebensgeschichte. Im Text berichtet ein Besucher des Hauses, der gleichzeitig auch die Rolle des Hausherrn übernimmt. Durch das Zusammenspiel der beiden Ebenen kommt eine traumartige Wirkung zustande, und tatsächlich endet der Blick aufs Lebenswerk mit einem Traum, oder einem Albtraum:

„Aber heute Nacht hatte ich einen Traum: Es war Krieg. Ein Krieg, zehnmal grauenhafter und zerstörender als alle bisherigen zusammengenommen. Ich sah die Verwüstungen nicht, aber ich wusste, dass etwas so Entsetzliches geschehen war, dass ich sterben müsste im Augenblick, wo ich es ganz begriffe. Der Krieg hatte schon fünf Jahre gedauert und jedes Jahr war verheerender gewesen als das vorangehende. Auf einmal wusste ich, das schöne Haus der Steine war in Gefahr. Durch flammende Strassen und Plätze rannte ich hin, ohne rechts und links zu schauen, stand davor und erlebte gerade, wie das breite Dach in einer einzigen Flamme aufging wie ein Stück Papier. Dann kam das Feuer an die Bücher. Jedes einzelne klappte seine beiden Deckel auf wie Schmetterlingsflügel, eine rote Flamme schoss heraus und das Buch war fort. Indem ich gebannt dem seltsam schönen Schauspiel zusah, fiel vom Himmel herab ein unbeschreibliches Rauschen, das in einem nie gehörten, lang ausrollenden Donner endigte. Der rechte Flügel des Gebäudes flog in einer einzigen Purpurwolke auseinander und regungslos für Augenblicke stand vor der roten Wand die volle Herrlichkeit der grossen und kleinen Tiere und der bunten blitzenden Kristalle gleich einer köstlichen Stickerei; so dass man jedes einzelne Stück sah und erkannte in seiner tiefen Bedeutung und überzeitlichen Schönheit, und also das Gesetz des Ursprungs, um das sich die Forschung seit Generationen vergeblich bemüht, selbst sichtbar wurde als ein in leuchtenden Linien verzweigter Baum der Erkenntnis. Schon im nächsten Augenblick sank die Erscheinung in einem grauen, prasselnden Hagel zusammen. Ich fühlte noch, wie sich mir ein Stein auf den Kopf legte, und wusste, es war der runde weisse Ammonit Nodosus, den der alte Professor seit seiner Knabenzeit auf seinem Tisch liegen hatte, weil er ein Fund und Geschenk seines Vaters war und von diesem einen Stück sein Verhältnis zur Welt der Steine ausging…“ (S. 290/291)

– Vielleicht ist es unter rhetorischen Gesichtspunkten gestattet, an dieser Stelle das Muster der strikten Argumentation zu verlassen und die Erörterung mit einer Art Synkope zu beschliessen.

Im Mai 2005 – ein Jahr nach dem gewaltigen Tsunami – hatte ich in Sri Lanka bei einem Projekt zum Katastrophenschutz zu tun. Eine junge Frau führte uns „Am Strand gehen“ vor, eine der Übungen, mit denen sie Schülerinnen und Schülern „Achtsamkeit“ (oder das buddhistische Verhalten, das wir so nennen) vermittelt. Sie wies auf das enorme Alter jedes Sandkorns hin und erklärte, dass die Schichten des feuchten Sandes unter dem trockenen Sand voller kleiner Lebewesen seien, so dass man vorsichtig auftreten müsse, um sie nicht zu töten. Sie fragte ob die Haut das Strahlen der Sonne fühle und wie das Rauschen des Meeres und das Mövengeschrei im Ohr klinge. Ob zu spüren sei, wie der Wind durch die Nase in die Lungenflügel dringt. Sie zeigte, wie es aussehen kann, wenn eine Person so auf dem Sandstrand geht, dass sie ganz und gar präsent ist. Die Kinder ahmten ihr Vorbild hingebungsvoll nach, und sie erklärte uns, dass das einzige Ziel ganz einfach sei: Es gelte, den gegenwärtigen Moment durch das eigene Sein vollkommen aufzunehmen.

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