Die Verwandlungsbereitschaft der Dinge erscheint auf ihrer Oberfläche

Vielleicht ist die Verwandlungsbereitschaft der Dinge im Frühjahr am leichtesten zu verfolgen. Es drängt uns, morgens das Längerwerden des Lichts zu kommentieren, noch bevor wir nachschauen, ob auf Vogeltränke und Regentonne eine Eisschicht ist. (Eis auf der Regentonne bedeutet eine harte Frostnacht, doch findet sich in diesem Jahr dort ab Mitte März nur noch selten eine dünne Eisfolie, während das Wasser in der Vogeltränke noch zur Kruste erstarrt ist.)

Seit ich im Traufbereich der Hainbuche das Gras nicht mehr schneide und den Blätterfall liegen lasse, haben sich die wilden Krokusse ausgebreitet

Schon Ende Februar ist der Traufbereich unter dem Feldahorn mit Krokusblüten ziemlich dicht bedeckt. Die trockenen Reste von Blattstreu, wo den Winter über ab und zu ein hungriger Kernbeisser herumsuchte, sind von einer blauen Blütendecke verdrängt worden. Der Boden war in der Tiefe mit einer Schicht aus Hunderten von Zwiebelchen gepflastert, die binnen weniger Tage laut und deutlich hervorgebrochen sind: So verwandelte er seine Oberfläche vor den Augen der ganzen Welt.

Ein Freund erzählt, dass die gelben Krokusse, die im Garten an anderen Stellen leuchten , von Amseln aufgepickt werden: Der gelbe Farbstoff enthalte eine Substanz, die den Vögeln hilft, ihre Lieder zu schmettern. Ob das auch für den Grünspecht gilt, dessen Gelächter seit Tagen immer wieder ganz unerwartet unser Gespräch unterbricht?

Schneeglöckchen und Winterling, Scharbockskraut und Veilchen treten massenweise an den Rändern von Wäldern und alten Parkanlagen hervor. Vom Schloss in Wehningen ist seit langem kaum noch ein Stein übrig, aber die Böschung des alten Schlossgrabens leuchtet weiss von Schneeglöckchenfeldern, und die Zweige der starken Äste der mächtigen Eichen sind mit auffallend hellen Knospen besetzt. An Strassenrändern und hinter Gartenzäunen bilden blühende Pflaumenbäume weisse Wolken, und man staunt, welche Mengen es davon hier auf dem Lande an allen Ecken und Enden gibt.

Am 26. März nachmittags im Sonnenschein auf einer Bank am Rande des Waldes: Über dem Boden des Sandwegs vor uns wimmeln hummelartig behaarte kleine Wildbienen durch die Luft; sie stürzen herab, drängen sich zu zweit aneinander, beginnen als einzelne zu suchen und im trockenen lockeren Sand zu graben. Wo kommen sie her? Gibt es Nester, aus denen sie hervorschwärmen, um sich über die Landschaft des Sandweges zu verteilen? Abends im Internet lese ich eine Notiz von Henri Greil: „Die Grosse Weidensandbiene Andrena vaga ist jetzt in Braunschweig sehr aktiv. Viele patrouillierende Männchen, Paarungen. Die Weibchen bauen Nester, Pollen sammeln aber noch nicht viele.“ (#BeesUp) Ob der Frühling uns zur Wahrnehmung derartiger Beobachtungen treibt, – so dass wir selbst erfasst sind von jener ausufernden Kraft, die den Schwarzdorn mit Blütenmassen bedeckt und die Nachtigallen in Uganda auf den Weg nach Norden schickt?

Zur gleichen Zeit wie die Sandbienen steigen Ende März erste Lerchen empor, eine jubelt über einem Acker bei Wulfsahl, eine andere über einer Rinderweide an der Elbe bei Damnatz. Ihr Lied habe ich seit Jahren nicht zu hören vermocht, die Aufführung nehme ich jetzt als Geschenk des Frühlings und meiner neuen Hörgeräte. (Wie die Brille, bieten sie einen Beleg für den gelegentlichen Segen technischer Hilfsmittel.)

Immer mehr Störche tauchen auf aus der Tiefe des Raumes, wir sehn sie beim Durchschreiten der Wiesen im Aueland, paarweise und einzeln, oder in ihren Nestern herumstochernd, etwa oben auf dem Schornstein der alten Molkerei. Kranichgeschrei schallt herüber, man weiss nicht, ob es aus den Lüften oder von den Feldern her kommt. Als wir an die Küste fahren (nachschauen, ob das Meer noch da ist), geraten wir im Moränengelände in ein schönes Bild: Die grünen Hügel besetzt mit lauter grauschwarzen Kranich-Trupps, jeder der Vögel des Geschwaders auf eigene Weise elegant.

Ostseestrand bei Kühlungsborn-Arendsee Ende März 2022

Wir meinen, dass wir Stunden damit zubringen könnten, die wechselnden Muster auf der Oberfläche des Meeres zu beobachten: Die am Ufer auslaufenden Wellen fräsen ihr eigenes Abbild als Rippelmarken-Muster in den Sand, von weit draussen rollen sie eine endlose Kette breiter Bänder heran, die stellenweise von Querbändern gekreuzt werden. Selbst bei Flaute fallen Windstösse wie Stempel aufs Wasser und bilden Inseln gekräuselter Oberfläche im glatten Leuchtspiegel der See. Der Horizont, eine extrem akkurat waagerecht gezogene Linie („Schau mal der Horizont, wie mit dem Messer gezogen“, – ich habe den Spruch eines Norwegers noch im Ohr) bietet uns heute den raren Anblick einer verdoppelten Parallele. Obendrauf schwebt ein Schiff über dem hellen Band dieser beiden Linien, das an der Unterseite von der dunkleren Wassermasse abgegrenzt wird. Ganz allmählich löst sich die Spur am westlichen Ende aus der parallel verlaufenden Horizontale heraus und kippt in leichtem Winkel nach unten. Wer will diese Phänomene erklären? Und wem bliebe die Faszination des Ozeans nicht rätselhaft? Von dieser Wassermasse geht eine Kraft aus, sie uns trifft als Einladung, als Anspruch. Die jungen Leute, die früh morgens bei Sonnenaufgang am Ufer stehen oder an der Wasserkante entlang laufen, vernehmen sie vielleicht als attraktive Melodie.

Tage später, am Ufer der Hochwasser führenden Elbe, staksen wir über den breiten Gürtel von Treibsel, bewundern die Vielfalt der Wassermuster in der mächtig hintreibenden Strömung und vergleichen die Unterschiede zwischen den Ansprachen des Meeres und des Stroms. Flüsse, sage ich, sind individueller, jeder ist eine eigene Persönlichkeit. Sie sind lebendiger, sagt Elisabeth. Die Oberfläche von Flussbildern ist wechselhafter als die von Meeren. Ausserdem: Du bewunderst das Meer, aber kannst du es lieben wie du einen Fluss lieben kannst?

Ähnlich, wie die Flächen des Wassers flimmern und funkeln, drängt sich Grün auf die Flächen des Landes, durchsetzt mit bunten Blüten, Mückenwolken, Zitronenfaltern; kleine und grosse Vögel erscheinen, die Lüfte schimmern bläulich: Alle Welt, nicht nur das, was lebt, sondern auch das, was das Leben trägt, hebt aufs Neue an und verbreitet sich als eine Art Schwingung. Vielleicht ist alles belebt. Wir spüren die Vibration, deuten sie als tiefe Unruhe, die Land und Wasser erfasst und wohl immer da ist, in diesen Wochen ein Beben, über den Rest des Jahres weniger heftig, weniger laut als zu dieser Zeit des Erwachens. Aber das Land ist mitsamt seinen Wassern und Hügeln und Steinen am Saum seiner Oberfläche immerzu in Bewegung. Es lebt, und die Mineralien und Metalle, die es birgt, sind auf ihre Weise ebenfalls lebendig. Auch wenn wir sie auf den ersten Blick für leblos halten: Die intensiven Bewegungen des Frühlings reichen nicht weit genug, uns kurzlebigen Beobachtern die lang anhaltenden Schwingungen dieser Dinge in den Sinn zu bringen.

Jane Bennett hat in ihrer Studie „Vibrant Matter. A political ecology of things“ (2010) ein Kapitel mit „A life of metal“ überschrieben. Da trägt sie philosophische Argumente für ein eigenes Leben von Dingen – etwa Mineralien und Metallen – zusammen, die uns viel ferner liegen als Pflanzen und Tiere, – Organismen, mit denen wir ja im Wortsinn verwandt sind. Bennett unternimmt es, das Leben der leblos erscheinenden Dinge zu begründen. Dazu ist es notwendig, dass sie sich mit den Vertretern der „Lebenskraft“-Philosophie befasst. Sie zeigt, dass Henri Bergson (1859 – 1941) mit seinem „elan vital“ und Hans Driesch (1867 – 1941) mit seiner „Entelechie“ nichtmaterielle Grössen ins Spiel bringen bzw. auf nichtmaterielle Einflüsse mit sehr langen Ideengeschichten zurückgreifen.

Wie wäre es, wenn wir in einer ganz und gar materiellen Welt lebten? Bennett folgt (vor allem) der Argumentation der Philosophen Gilles Deleuze (1925 – 1995) und Félix Guattari (1930 – 1992) und fasst zusammen: „Für Vitalisten wie Bergson und Driesch schien die Materie, um animiert und mobil zu werden, nach einer nicht-ganz-materiellen Ergänzung zu verlangen, einem élan vital oder der Entelechie, während es Deleuze und Guattari klar ist, dass Materialität keiner animierenden Zutat bedarf. Sie ist selbst als „aktives Prinzip“ konfiguriert.“ (p. 61, übers. H.S.)

Diese Materie ist kein blosser „Werkstoff“, sondern lebt aus sich selbst, jedes ihrer Atome zitternd vor Energie. Beim Lesen finde ich interessante Begriffe, die Bennett aus neueren philosophischen Erörterungen zitiert: „Vibrierende Ausflüsse, die jedem Arrangement vorausgehen“, „prozesshaft aufstrebende Qualitäten“, die Vorstellung von Materie als einer „drängenden Menge von Anfängen und Tendenzen“. Denk-Experten versuchen hier, die flüchtige Grösse eines eigenen vibrierenden Lebens der Dinge begrifflich zu fassen, die in unserer hergebrachten und anerzogenen Vorstellung durch eine Kluft von den organischen Wesen getrennt ist.

Was mir dabei hilft, dieser befremdlichen Vorstellung näher zu kommen, ist eine Passage, in der Bennett an die Erfahrung erinnert, die uns aus Handwerk und Kunst mehr oder weniger geläufig ist. Ich finde die Spur, die mir das Leben vermeintlich toter Dinge plausibel macht, wo von der Widerständigkeit der Werkstoffe die Rede ist. Dass diese unseren Werktätigkeiten nicht nur passiv widerstehen, sondern eine eigene „Körperhaftigkeit“ zum Ausdruck bringen, sei eine den Handwerkern wohl bekannte Erfahrung: „Anstelle einer vom Werkstoff trennbaren Gestaltungskraft, begegnen Handwerker (und Mechaniker, Köche, Bauleute, Reiniger und jede Person, die mit Dingen näher zu tun hat) einer selbstbeharrlich den Dingen innewohnenden Materialität, die eigene Gestaltungsansprüche und Neigungen zeigt.“ (p.56, übers. H.S.)

Wer mit Holz arbeitet, muss Holz verstehen. Gelungene Skulpturen sind aus Stein „herausgeholt“ worden, als ob es der Stein selbst darauf angelegt hätte. Es gibt eine sehr alte und reiche „händische“ Erfahrung des handwerklichen und künstlerischen Umgangs mit Material. (Das Wort „Werkstoff“ betont den instrumentellen Blick auf die Welt; ich vermute, dass die Holz- und Steinhandwerker der Vergangenheit einen Respekt vor den Eigenheiten des Materials übten, der von diesem Wort „Werkstoff“ nicht erfasst wird. ) Möglich, dass unsere fernen Vorfahren eine Nähe zu den Dingen kannten, die seither verloren gegangen ist – schon im alten Griechenland hatte das Wort „Handwerker“ (Banausoi) einen verächtlichen Beiklang. Es liegt (mir) nahe, die alte Nähe zu den Dingen als Teil eines Weltbilds zu verstehen, das durchgängig überall lebende Wesen wahrnahm. Da gab es keine Kluft zwischen lebenden und unbelebten Dingen, und demzufolge auch keine zwischen Geist und Materie: Die Dinge brachten beide Ansichten zum Vorschein.

In dem schönen Buch „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ finde ich ein hübsches Beispiel.

Jadebeil, gefunden in der Nähe von Canterbury, England, 4000 – 2000 v. Chr. Aus: Neil McGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten. .München: Beck. 5. Aufl. 2013, S. 120

McGregor beschreibt dies perfekt geschliffene Jadebeil als Luxusgegenstand, der nie an einem Schaft befestigt und nie zum Bäumefällen benutzt wurde. Die Jade stammt aus den italienischen Alpen, wo vor 6000 Jahren in 2000 Metern Höhe Jadeblöcke abgebaut wurden. (Mit Hilfe von Feuer und Hebeln; die genaue Stelle wurde im Jahre 2003 ermittelt.) McGregor zitiert den Experten Mark Edmonds: „Wer das Glück hat, eine dieser Äxte anfassen zu dürfen – wer spürt, wie sie in der Hand liegt, wer ihre Symmetrie, ihr Gewicht, ihre Glätte fühlt -, wird erstaunt sein, wie extrem glatt sie poliert ist. Um das zu erreichen, ist sie stundenlang an einem Stein gewetzt, dann mit feinem Sand oder Lehm und Wasser poliert und schliesslich in der Hand hin und her gerieben worden, vielleicht mit Fett und Blättern. Das dauert tagelang. Es verleiht der Schneide erst wirkliche Schärfe und Robustheit, betont aber auch die Form, ermöglicht deren Kontrolle und fördert die ausserordentliche grüne und schwarze Sprenkelung des Steins zutage – die Axt ist auf einen Blick zu erkennen und bietet einen bestechenden Anblick. „ (S. 122/123)

Diese Axt ist das Produkt der handwerklichen Arbeit an dem Silikatsteinbrocken aus Jade. Da ist etwas Neues in die Welt gekommen. Bevor dies Ding infolge der Auseinandersetzung zwischen Handwerker und Jadebrocken greifbar wurde, war es allenfalls als vage Idee präsent. Besteht die besondere Funktion des Materials – Holz, Mineral, Metall – vielleicht darin, neue Gestalten, neue Formen in die Welt zu bringen, – durch die Kooperation mit Menschen?

Bronze-Skulptur von Waldemar Nottbohm, Hitzacker

Die 13 cm hohe Skulptur aus Bronzeguss, das Geschenk meines Freundes Waldemar Nottbohm, erinnert an eine organische Gestalt. Die Oberfläche mit teils schrundigen teils glattpolierten Passagen lädt ein, das Teil in die Hand zu nehmen. Gewicht (540 g) und Knochen- oder Astform liegen angenehm darin, wie ein Handschmeichler mit Statusanspruch.

Der Umgang mit Metallen – Giessen und Schmieden – brachte anfangs vor allem deren Neigung zur Selbstveränderung ans Licht. Legierungen sind nicht allein die Folge metallurgischer Massnahmen, sondern auch die einer im Metall selbst liegenden Wandlungsfähigkeit. „Im Sumer-Reich wurde ein Dutzend Arten von Kupfer mit verschiedenen Bezeichnungen entsprechend Herkunftsort und Reinheitsgrad inventarisiert. Dies bildet eine fortgeführte Melodie des Kupfers, und der Handwerker wird sagen: Das ist genau, was ich brauche. Aber trotz dieser Durchbrüche der Handswerkskunst gibt es keine feste Ordnung der Legierungen, ihrer Varianten oder ihrer kontinuierlichen Veränderungsfolge.“ (Deleuze: „Metal, Metallurgy, Music, Husserl, Simondon“, zitiert nach Bennett p. 59/60) Man führt das Zufallsmuster auf die besondere Struktur von Metallen zurück. Sie sind polykristallin („vielkristallig“), aber die vielen winzigen Kristalle, aus denen sie bestehen, sind von ganz unregelmässiger Gestalt, so dass Zwischenräume entstehen, die sich zumal bei Erhitzung verändern. Bennett kommentiert: „Eine metallene Vitalität, ein (nichtpersönliches) Leben, kann im Beben dieser freien Atome am Saum zwischen den Körnern des polykristallinen Gebildes gesehen werden.“ (p. 59)

Beim Nachdenken über lebende und vermeintlich tote Dinge finde ich die Tatsache interessant, dass Pflanzen, Pilze und Tiere – die Lebewesen auf der Erde – Mineralien und Metalle zum Aufbau ihrer Organismen einsetzen: Statt sie als tote Fremdkörper abzustossen, integrieren sie sie als Bestandteile der eigenen Körper, – als ob es darum ginge, Spinozas geschwisterlichen Begriff „Conatus“ (das Beharren der Dinge und Lebewesen, ihr Bestreben, da zu bleiben) zu bestätigen.

Unter der Überschrift „Warum der Stachel des Skorpions so hart ist“ lese ich am 25.3.2022 (Diemut Klärner in der FAZ) den Bericht über neue Forschungserkenntnisse: Dass der Panzer von Strandkrabben aus einer Mischung von (organischem) Kohlenstoff und (mineralischem) Kalziumkarbonat besteht, die Raspelzunge von Napfschnecken mit Zähnchen aus Nadeleisenerz oder Magnetit besetzt ist, dass Insekten ihre Zähne und Klauen durch gleichmässig verteilte Atome von Zink, Mangan, Eisen und Kupfer verstärken. Die Kiefer der Blattschneiderameise werden so zu „Messern mit Wellenschliff“, der Stachel von Skorpionen zu einer Mangan verstärkten Kanüle, deren äusserste Spitze mit dem noch härteren Zink verkleidet ist. Auch unser menschliches Skelett besteht aus „einem Verbundmaterial mit organischen und mineralischen Komponenten“, und unsere Zähne – so lange sie kein Ersatz sind – aus Hydroxylapatit, einer Form von Kalziumphosphat.

Die Natur folgt keiner Theorie und keinem vorher ausgedachten Plan. Ihr Drang, einfach da zu sein, mag manchem als blind erscheinen. Aber diese Blindheit schliesst Dinge nicht aus, die uns leblos erscheinen. Auch diese sind eingebunden und aufgehoben im umfassenden Lebenszusammenhang.

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