Die Entseelung der Natur bringt die Ausbeutungs-Lizenz mit sich

Robin Kimmerer skizziert in einem ihrer Texte den Wald als Geflecht gegenseitiger Abhängigkeiten zwischen Pilzen und Bäumen und den Moosen, die ihr eigentliches Fachgebiet sind. Unter einer Moosdecke ist Pilzmyzel dichter und kräftiger ausgeprägt als unter moosfreien Böden, was wohl vor allem auf die von der Moosdecke gewährte gleichmässige Feuchtigkeit zurückzuführen ist. Sie zeichnet ein Bild der alten Wälder mit ihren majestätischen Bäumen an der Pazifikküste Oregons, und beschreibt den wechselseitigen Nutzen der Organismen auf anthropomorphe Weise: Diese nehmen nur das bisschen, das sie zum Leben brauchen, und geben grosszügig zurück. So hält ihr Dasein Wolken und Flüsse, Bäume, Vögel, Algen und Salamander am Leben, und alle Wesen danken einander. Allerdings sind Teile der Wälder an der Pazifikküste einer Holzwirtschaft ausgeliefert, die das Land durch gigantische Kahlschläge verwüstet. Richard Powers‘ Roman „Die Wurzeln des Lebens“ (2018) hat die Lage wohl auch einem breiteren deutschen Publikum vor Augen geführt.

Robin Kimmerer untersucht einen der einzelnen Bäume, die inmitten eines Kahlschlags dank einer neuen Vorschrift stehen gelassen wurden. Die Äste des Überlebenden sind weit oben, die Sonne hat die grüne Moosdecke, die den Stamm einst bedeckte, ausgebleicht, und die graubraunen Matten hängen in Fetzen über ausgetrocknete Farnwurzeln herab. „Die poikilohydrische („wechselfeuchte“) Natur der Moose hilft vielen Arten dabei, zeitweise auszutrocknen und sich dann, wenn Wasser da ist, wieder zu erholen. Aber hier sind diese Arten, angepasst an die ausdauernde Feuchtigkeit des Waldes, über die Grenze des ihnen Ertragbaren hinausgedrängt worden. Sonnendurchbacken und ohne jede Restfeuchtigkeit, haben sie keine Chance zu überleben, bis der nächste Wald wiederkehrt“. (Robin W. Kimmerer: „The Forest Gives Thanks to the Mosses“ in dies.: Gathering Moss. A Natural and Cultural History of Mosses. Penguin 2011, p. 152)

Robin Wall Kimmerer (Umschlagfoto von „Gathering Moss. A Natural and Cultural History of Mosses“ Penguin Books 2021)

Ihrer indigenen Perspektive gemäss vermittelt sie die ökologische Verflochtenheit aller Agenten des Waldgefüges als Muster wechselseitiger Dankbarkeiten. Der Text findet am Ende einen Höhepunkt, in dem sie die Vision einer möglichen Zukunft beschwört, in der die Menschen gelernt haben, im Einklang mit der natürlichen Welt zu leben: „Ich halte die Vision aufrecht, dass wir eines Tages den Mut zur Selbstzurückhaltung finden, die Demut, nach Art der Moose zu leben. An jenem Tag werden wir, wenn wir aufstehen und dem Wald danken, das Echo vernehmen können, mit dem der Wald den Menschen dankt.“ (156)

Robert Zünd: Eichenwald, 1882, Kunsthaus Zürich: Das Gemälde eines ,Waldes voller Unterholz verschiedener Arten in Europa

Dieser letzte Satz wäre, so meine ich, als eine Art Shibboleth geeignet, als Passwort zur Ermittlung des Rests Naturfrömmigkeit, den wir vielleicht noch in uns tragen: Entweder handelt es sich um eine sog. Metapher, in diesem Zusammenhang etwas, das mit einem Wort für einen konkreten Ding-Bezug eine Sache („Echo“) umschreibt, die jenseits der unserer Erfahrung zugänglichen Welt liegt, oder da ist keine solche Metapher, sondern etwas, das ebenso erfahrbar für uns in der Welt ist wie der Geruch des Mooses oder das Schmettern der Buchfinken. Nehmen wir den Satz in diesem Sinn wörtlich oder metaphorisch? Die jeweilige Lesart verrät die abgründige Unterschiedlichkeit der Weltsicht. Gestehen wir Dr. Kimmerer zu, dass sie ihre Vision wörtlich meint, zumal ihre im indigenen Naturglauben begründete Einstellung durch ihre anderen Texte zu belegen ist. Was uns betrifft, so möchte ich eher vermuten, dass die meisten Lesenden der Deutung als Metapher zuneigen. Wir sind so erzogen.

Kimmerers Text bricht an dieser Stelle gewissermassen auseinander und offenbart – metaphorisch – das unter dem Fell des Bären verborgene Goldgewand. Wir sehen, dass es Formen der Welterfahrung gibt, die uns fremd anmuten, aber womöglich einen verlorenen Reichtum zeigen. Und vielleicht sogar die Aussicht auf die Möglichkeit öffnen, dass man in der Welt sein könnte, ohne sie kaputt machen zu müssen, ohne in die Falle der programmierten Selbstzerstörung zu geraten. Vielleicht ruft die Passage auch verborgene Erinnerungen wach. Wer hätte nicht wenigstens in Gedanken mit der Phantasie gespielt, ein Leben in der Natur nach den Mustern der Natur zu führen? Und die Mode des „Waldbadens“, die den guten alten Waldspaziergang als Therapie definiert, komplett mit messbarem Absenken des Blutdrucks, der Herzschlag-Frequenz und der Produktion von Resistenz-fördernden Hormonen (im Speichel nachweisbar): Belegt sie nicht eine Art leibgebundener Erinnerung an glückliche naturverbundene Zeiten? Der Verdacht, dass wir selber immer noch verkappte Anhänger der indigenen Weltsicht mitsamt der innewohnenden Beseelungstendenz sind, kommt als Ahnung zum Vorschein, auch wenn sie in der Praxis des tatsächlichen Lebens kaum eine Rolle spielt. Ab und zu tauchen Reste eines Natur- Verhältnisses auf, das unsere Vorfahren über Zehntausende von Jahren pflegten. Ein neues Verhältnis ist durch das Christentum begründet worden. Die Folgen bleiben wirksam, auch wenn die Macht der Dogmen des neuen Glaubens versiegt ist und in Vergessenheit gerät. Aus dem kollektiven Gedächtnis treten manchmal Erinnerungen an die alte Zeit hervor, weil das monotheistische Projekt, den Naturdingen die Seele zu nehmen, erst eineinhalb Jahrtausende alt ist: Immer noch neu, gemessen an der Dauer der Zivilisationen von der Stein- zur Bronze zur Eisenzeit. Trotzdem war der Schritt hin zur Entseelung der Natur ein wahrhaftig durchschlagender Erfolg, wenn man bedenkt, dass die westliche Technologie und die damit zusammenhängende Kommerzialisierung inzwischen das Leben sämtlicher Gesellschaften des Planeten prägen.

Kürzlich schrieb mir Swen Alpers aus Göttingen einen Brief zu meinem Blog-Text „Dialog mit Bäumen“. (Für mich eine tief befriedigende Erfahrung, durch solche Korrespondenz zum Nachdenken angeregt zu werden und eine vielversprechend interessante Spur dankbar zu verfolgen. ) Was ich hier heute schreibe, ist eine Art Fortführung des Gedankenaustauschs, der da angestossen wurde. Swen Alpers trägt in Fragegestalt eine Hypothese vor: „Waren es nicht die monotheistischen Religionen, bei uns mithin vorrangig das Christentum, welche unsere Mit-Lebewesen erst zu „Dingen“ degradierten? Hatten die Altvorderen nicht einen wesentlich tieferen Zugang zu jenen, und zwar ganz ohne „neo-romantische“ Verklärung?“

Als Beleg nennt er die „Deutsche Mythologie“ des nicht nur in Göttingen verehrten Jakob Grimm, ein dreibändiges Werk, das, ich gestehe es, mir noch nicht vorgekommen war. Inzwischen habe ich – Swen Alpers sei Dank – einen Blick in diese Bücher werfen können. Jakob Grimm (der Grimm, der die Deutschen Kinder- und Hausmärchen zusammen mit seinem Bruder Wilhelm herausbrachte) hat da in ungeheurer Fleissarbeit zusammen getragen, was das Geistesleben der so genannten Vorzeit in unseren Breiten ausmachte, bzw. all das, was Mitte des 19. Jahrhunderts dazu aufzutreiben war. Eine zum Thema „Dialog mit Bäumen“ passende Passage hat Herr Alpers ausgewählt. Es lohnt, den Text in seiner präzisen Diktion und modernen Schreibweise (Kleinschreibung von Substantiven) zu studieren: Da skizziert Grimm das Naturverhältnis der vorchristlichen Kultur.

Jakob Ludwig Grimm (1785 – 1863), Begründer von Philologie und Altertumswissenschaft in Deutschland

„Cap. XXI. Bäume und Thiere
Da nach der ansicht des heidenthums die ganze natur für lebendig galt, den thieren sprache und verständnis menschlicher rede, den pflanzen empfindung zugegeben, unter allen geschöpfen aber vielfacher wechsel und übergang der gestalten geglaubt wurde; so folgt von selbst, daß einzelnen ein höherer werth beigelegt, ja dieser bis zur göttlichen verehrung gesteigert werden konnte. götter und menschen wandelten sich in bäume, pflanzen oder thiere, geister und elemente nahmen thierformen an; es lag nahe den cultus, dessen sie theilhaft waren, der abgeänderten besonderheit ihrer erscheinung nicht zu entziehen. unter diesen gesichtspunct gebracht hat eine verehrung der bäume oder thiere nichts befremdliches. roh geworden ist sie nur dann, wenn im bewustsein der menschen das höhere wesen hinter der angenommenen form schwand und diese nun allein es zu vertreten hatte. Von göttlich verehrten gewächsen und geschöpfen zu unterscheiden sind aber solche, die heilig und hoch gehalten wurden, weil sie in näherem bezug zu göttern oder geistern standen. dahin gehören zum opfer dienende pflanzen oder thiere, bäume, unter denen höhere wesen wohnen, thiere, welche sie begleiten.
[…]
In wie hohem ansehn WÄLDER und BÄUME bei den heidnischen Deutschen standen hat schon das vierte cap. gezeigt. einzelnen gottheiten, vielleicht allen, waren haine, in dem hain vermutlich noch besondere bäume geweiht. ein solchen hain durfte nicht von profanen betreten, ein solcher baum nicht seines laubes, seiner zweige beraubt und nie umgehauen werden. Auch einzelnen dämonen, elben, wald und hausgeistern sind bäume geheiligt.“
(Jacob Grimm: Deutsche Mythologie. Dritte Ausgabe. Göttingen, Dieterichsche Buchhandlung, 1854.)

Wer einen Textbeleg aus jener Zeit wünscht, um die hier umrissene Praxis lebensvoll vor Augen zu haben, würde ihn etwa bei Sophokles finden. Der dritte Teil der Ödipus-Tragödie – „Ödipus auf Kolonos“, erstmals aufgeführt 401 v. Chr. – spielt im heiligen Hain von Kolonos (in der Nähe von Athen), und der Rahmen der Handlung ist durch die Präsenz der alten weiblichen Gottheiten und deren rituelle Vorschriften bestimmt: Sie regeln Zutritt und Aufenthalt für den blinden Alten und seine Tochter Antigone. Ödipus stirbt am Ende nicht, er verschwindet, oder „geht in den Wald“, interessanter Weise unter der gleichen sprachlichen Wendung, die für die Könige (Kabaka) von Uganda bis ins 20. Jahrhundert gebraucht wurde.

Ich möchte vorschlagen, die von Jakob Grimm für den deutschen Kulturraum zusammengestellten Befunde als repräsentativ für ein Weltverhältnis zu nehmen, das einst weit verbreitet war. Reste davon sind in der Gegenwart indigener Völker weiter wirksam, wie Robin Kimmerers Präsentationen zeigen. Noch tiefer verschüttete Reste sind in uns selber – inmitten der technisch aufgerüsteten Zivilisation eines heiss gelaufenen Anthropozän – als Ahnungen immer noch zugänglich. Man vermisst den Dialog mit der Natur und sucht nach einem Ausweg. Da könnte ein Projekt ansetzen, das ich Re-Animation der natürlichen Mitwelt genannt habe. Swen Alpers meint dazu: „Reanimiert muß sie strenggenommen ja nicht werden, unsere natürliche Mitwelt. Weil sie nie tot war. Wir Menschen haben sie nur für tot gehalten.“

Die Beseeltheit anderer Wesen, ihre dialogische Disposition, diese Einladung zur Vermenschlichung, herrschte einst über die ganze weite Welt menschlicher Erfahrung. Und doch ist jene alte Naturfrömmigkeit, die noch alle Naturwesen als beseelt wahrnahm – nicht nur Haine, Bäume und Raben, sondern auch Hügel und Quellen und Flüsse – als massgebliche, der gesellschaftlichen Praxis zugrunde liegende Kraft abhanden gekommen. Dass – zuerst hier in Europa, dann, getragen vom technischen Fortschritt, über alle Kontinente hin – die Mitwelt ihre vielfältige Beseelung verlor und als ausbeutbares Rohmaterial behandelt wurde, folgt aus dem Anspruch des jüdisch-christlichen Gottes auf Ausschliesslichkeit. Der Übergang zum Monotheismus wirkte wie das Absaugen der weit verstreuten Geistigkeit aus den Dingen und wie das Setzen eines einzigen unsichtbaren aber allentscheidenden Punktes an den Himmel. „Punkt“ und „Himmel“ – beides ist ganz abstrakt zu verstehen. Vielleicht wäre es klarer, und für die Denker konkreter Gedanken weniger irreführend, wenn man die theologische Vorstellung Gottes nicht an den Himmel sozusagen zwischen die Wolken und Sterne projiziert, sondern sie wie („als ob“) einen Punkt vor den Augen beschrieben hätte, der unverortbar bleibt. Die entscheidende und Transaktion beschreibt ein Muster, das am ehesten geometrisch zu fassen ist: Die der Natur innewohnende spirituelle Kraft wird abgezogen und in einem Punkt zusammengeballt, der ausserhalb der den Sinnen zugänglichen Welt liegt: Ein Transfer der religiösen Kraft, die deren vielfältige und verstreute Erscheinungsformen „auf den Punkt bringt“ und als höchsten und einzigen Beweggrund inszeniert.

In den Vierzigerjahren erzählte Herr Gröschel uns Grundschulkindern im Heimatkunde-Unterricht die Geschichte, wie Bonifatius die Donareiche fällte. Die Germanen hatten Donar zum Gott, und es gab da – bei Geismar in der Nähe des Ortes Fritzlar – eine mächtige alte Eiche, die dem Donar heilig war. In meiner Erinnerung stellte Herr Gröschel die Sache als eine Art Wette dar. Wer diese Eiche umhaute, den würde Donar töten, wetteten die Germanen. Aber Bonifatius setzte dagegen, schlug den Baum ab und zeigte ihnen, dass sein Gott stärker war als der Donnergott Donar. Daraufhin bekehrten sie sich zum Christentum und liessen sich taufen.

Diese Geschichte ist mir während meines Lebens öfters wieder in den Sinn gekommen. Ich erinnere das Wikingermuseum in Haithabu bei Schleswig mit den in Vitrinen ausgestellten Habseligkeiten der Wikinger-Bevölkerung, die dort vor tausend Jahren lebte. Offenbar war ein Anhänger für Halsketten und Armbänder beliebt, ein jedenfalls unter den Funden sehr verbreitetes Schmuckstück, das wie der Buchstabe T erschien, mit einem winzigen „Nupsi“ in der Mitte oberhalb des Querbalkens, – eine Hybridform zwischen Kreuz und Hammer, mit der man sich sowohl, je nach Situation, selbst als Anhänger Christi (Kreuz) oder als Anhänger des grossen Thor (Hammer) ausweisen konnte.

Später, bei einem Flug über der amerikanischen Westküste, als die Maschine einen enorm weit ausgedehnten Kahlschlag überflog, fiel mir Bonifatius und die Donareiche ein, und ich spürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge.

2019 herausgebracht von“gottnet“: 0 Euro Schein mit Motiv „Bonifatius fällt die Donareiche“ (Christliche Medienintitiative Pro, Schein: „Gottnet-Shop“ (sic!)

Erst vor kurzem kam mir der Bericht über die emblematisch aufgeladene Baumfällung vor Augen, verfasst in der Zeit um das Jahr 760 von dem Bonifatius-Zeitgenossen Willibald von Mainz („Vita Sancti Bonifatii“). Die Donareiche war im Jahr 723 gefällt worden. Ich fand an der Darstellung überraschend, wie akkurat hier die verschiedenen Glaubens-Schattierungen jener Übergangszeit beschrieben sind:
Damals aber empfingen viele Hessen, die den katholischen Glauben angenommen und durch die siebenfältige Gnade des Geistes gestärkt waren, die Handauflegung; andere aber, deren Geist noch nicht erstarkt, verweigerten des reinen Glaubens unverletzbare Wahrheiten zu empfangen; einige auch opferten heimlich Bäumen und Quellen, andere taten dies ganz offen; einige wiederum betrieben teils offen, teils im geheimen Seherei und Wahrsagerei, Losdeuten und Zauberwahn; andere dagegen befassten sich mit Amuletten und Zeichendeuterei und pflegten die verschiedensten Opfergebräuche, andere dagegen, die schon gesunderen Sinnes waren und allem heidnischen Götzendienst entsagt hatten, taten nichts von alledem. Mit deren Rat und Hilfe unternahm er es, eine ungeheure Eiche, die mit ihrem alten heidnischen Namen die Jupiter-Eiche genannt wurde, in einem Orte, der Geismar [Gaesmere] hieß, im Beisein der ihn umgebenden Knechte Gottes zu fällen. Als er nun in der Zuversicht seines standhaften Geistes den Baum zu fällen begonnen hatte, verwünschte ihn die große Menge der anwesenden Heiden als einen Feind ihrer Götter lebhaft in ihrem Innern. Als er jedoch nur ein wenig den Baum angehauen hatte, wurde sofort die gewaltige Masse der Eiche von höheren göttlichen Wehen geschüttelt und stürzte mit gebrochener Krone zur Erde, und wie durch höheren Winkes Kraft barst sie sofort in vier Teile, und vier ungeheuer große Strünke von gleicher Länge stellten sich, ohne daß die umstehenden Brüder etwas dazu durch Mitarbeit getan, dem Auge dar. Als dies die vorher fluchenden Heiden gesehen, wurden sie umgewandelt, ließen von ihrem früheren Lästern ab, priesen Gott und glaubten an ihn. Darauf aber erbaute der hochheilige Bischof, nachdem er sich mit den Brüdern beraten, aus dem Holzwerk dieses Baumes ein Bethaus und weihte es zu Ehren des heiligen Apostels Petrus.“ (Reinhold Rau: Briefe des Bonifatius. Willibalds Leben des Bonifatius. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011)

Personen, die als Experten zur Aufklärung der seltsamen Naturfremdheit beitragen können, die das Anthropozän prägt, sind gar nicht so rar, wie ich angenommen hatte, bevor ich nach ihnen in Bibliotheken und Datenbanken zu suchen begann. Ein besonders wertvoller – die Augen öffnender – Fund ist der Vortrag eines amerikanischen Wissenschaftshistorikers (Spezialgebiet Mediävistik) namens Lynn White mit dem Titel „Die historischen Wurzeln unserer ökologischen Krise“. White hatte diese epochemachende Ansprache im Jahr 1966 bei der AAAS (American Association for the Advancement of Science) gehalten. Der Text erschien 1967 in der Zeitschrift „Science“ (damals und heute noch „erste Adresse“) und führte zu intensiven Auseinandersetzungen mit viel Zustimmung und Kritik, – eine Reaktion, die immer noch anhält, wie kontroverse Stellungnahmen neueren Datums bei wikipedia belegen. White kannte die Details der Entwicklung der westlichen Technik wie kein zweiter, war aber auch mit philosophischen und theologischen Hintergründen vertraut, und er verstand es, seine Zuhörer mit seinem Humor und seinem spürbar tiefen Engagement so anzusprechen, dass sie sich zu einer eigenen Stellungnahme motiviert sahen. So weit mir bekannt, ist dieser Text noch nicht ins Deutsche übersetzt. Ich versuche, hier wenigstens knapp das wiederzugeben, was unser Thema beleuchtet.

Lynn T. White, Wissenschaftshistoriker 1907 – 1987 (wikipedia commons)

White erläutert, dass die von den christlichen Missionaren verbreitete Weltsicht ein völliges Umdenken mit sich brachte: Die paganistische (heidnische, vorchristliche, animistische) Grundidee war zyklisch: alles kommt wieder. Dem gegenüber beruhte der judaeo-christliche Monotheismus auf einem linearen Zeitbegriff: nichts wiederholt sich. Ausserdem begründete die biblische Schöpfungsgeschichte eine hierarchische Ordnung der Welt, die als eine Art Gründungsurkunde galt. Zur Erinnerung: Gott schuf Licht und Dunkelheit, die Himmelskörper, die Erde mit all ihren Pflanzen, Tieren, Vögeln und Fischen. Zuletzt schuf Gott den Adam und nachträglich Eva, damit der Mann nicht allein sei. Der Mensch gab allen Tieren einen Namen und richtete damit seine Herrschaft über sie ein. Mit seiner Schilderung stellt White den Sinn dieses Narrativs heraus: „Gott plante dies alles ausdrücklich zum Wohl und zur Herrschaft des Menschen: Kein Stück der Schöpfung hatte einen anderen Zweck als den, den Absichten des Menschen zu dienen. Und, obwohl der Körper des Menschen aus Lehm geformt wurde, ist er nicht einfach Teil der Natur: Er ist als Abbild Gottes gemacht. In dieser westlichen Gestalt ist das Christentum die anthropozentrischste Religion, die die Welt je gesehen hat.“

Das Christentum brachte damit den Dualismus zwischen Mensch und Natur in die Welt, jene fundamentale Trennung, die Jahrhunderte später bei der Begründung der neuzeitlichen Naturwissenschaft noch einmal zugespitzt werden sollte. Descartes (1596 – 1650) hatte den untersuchenden Geist – „res cogitans“ – zu einer abstrakten Instanz erklärt. Diese war letztlich unverortbar wie ein Punkt, ähnlich ungreifbar wie Gott selbst. Res cogitans studierte die Gegenstände der sich draussen hinstreckenden Welt – „res extensa“ – als seelenlose Objekte. Somit war beispielsweise die Vivisektion gestattet, das Aufschneiden und Untersuchen lebender Tiere, und breitete sich als wissenschaftliche Praxis aus: Die ultimative Entseelung der Mitwelt, bei Lichte betrachtet allerdings nichts anderes als die konsequente Anwendung der Lizenz des Menschen zur Ausbeutung der Natur für seine eigenen Zwecke. Die Objektivität der objektiven Wissenschaft wäre ein eigenes Thema. Mir geht es um die Breite und Tiefe der Wirkung dieses Sich- Abwendens von der beseelten Mitwelt und des Sich-Hinwendens zu einer monotheistischen Sicht. White betrachtet die Auswirkungen auf das Alltagsleben: „Dass der Mensch die Natur gemäss dem Willen Gottes für eigene Zwecke nutzen soll, wirkte sich auf der Ebene der einfachen Menschen auf interessante Weise aus. Im Altertum hatte jeder Baum, jede Quelle, jeder Strom, jeder Hügel seinen eigenen Genius loci, seinen Schutzgeist. Diese Geister waren Menschen zugänglich, aber sie glichen den Menschen nicht: Zentauren, Faune und Nixen belegen die Doppelwertigkeit dieser Erscheinungen. Bevor man einen Baum fällte, eine Grube in einen Berg anlegte, oder einen Bach aufstaute, war es wichtig, den Geist zu besänftigen, der für die jeweils besondere Stelle zuständig war, und ihn zufrieden zu halten. Indem es den heidnischen Animismus zerstörte, machte es das Christentum möglich, die Natur in Gleichgültigkeit gegenüber den Gefühlen der Naturdinge auszubeuten. … Die Geister in den Naturobjekten, die vorher die Natur vor den Menschen geschützt hatten, verflüchtigten sich. Der Monopol-Anspruch des Menschen auf den Geist dieser Welt wurde bestätigt, und die alten Hemmungen vor der Natur-Ausbeutung zerfielen.“ (The Historical Roots of Our Ecologic Crisis Author(s): Lynn White, Jr. Source: Science, New Series, Vol. 155, No. 3767 (Mar. 10, 1967), pp. 1203-1207)

Dieser Wechsel der Praxis beim Umgang mit dem Land macht für White den entscheidenden Unterschied aus. Da ist für ihn die überlegene Technologie des Westens begründet, lange vor der so genannten Wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts und vor der so genannten Industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts. Er fragt: „Sollte es ein Zufall sein, dass die moderne Technologie mit ihrer Rücksichtslosigkeit der Natur gegenüber, zu einem so überragenden Teil von den Nachfahren der Bauern Nordeuropas geschaffen worden ist?“ Als Beleg führt er (überraschend aber charmant) den Wandel der illustrierten Kalendarien an. Vor dem Jahr 830 (Karl der Grosse: die Zeit unmittelbar nach ihm) habe man die Monate als passive Personifizierungen dargestellt. „Aber die neuen fränkischen Kalender, die für das Mittelalter tonangebend werden sollten, sind ganz anders: Sie zeigen, wie Menschen die Welt um sich herum bezwingen – pflügend, erntend, Bäume fällend, Schweine schlachtend. Mensch und Natur sind zwei Dinge, und der Mensch ist Herr.“

Gebrüder Linburg: Das Stundenbuch des Herzogs von Berry. Der Monat Februar. 1413 – 1416

Ich beginne, das bekannte Stundenbuch der Brüder Limburg aus dem 15. Jahrhundert im Licht dieser Erläuterung mit anderen Augen zu betrachten. Die akkurat gearbeiteten Zäune und Einfassungen, das Haus mit dem Blick ins Innere, ins Intime der Kleidung, die Fässer und Bienenkörbe, die Transportmittel, der Wagen, der Esel mit der Traglast- was mir vorher als Beschreibung eines Winter-Idylls erschien, erhält jetzt einen didaktischen Einschlag. Die Tätigkeiten der Menschen wirken vorbildhaft produktiv, selbst die Frauen, die sich am Feuer aufwärmen, legen anscheinend nur eine Pause ein, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit widmen. Und diese Arbeit kann wohl in ihren vielfältigen Feldern als Facette dieses Sich-die-Natur-zunutze-Machen beschrieben werden, Ausdruck eines Verhältnisses, dem die Mitwelt-Sicht im Wege ist und das den Herrschenden zusteht: Auf beklemmende Weise aktuell.

Lynn White nennt den Sieg des Christentums über das Heidentum „die grösste psychische Revolution unserer Kulturgeschichte“. In seinen Augen fahren wir mit unseren Denk-Gewohnheiten und unseren Handlungsmustern immer noch auf den Geleisen jener Weichenstellung, selbst dann, wenn wir meinen, der Kirche fern zu stehen. „Unsere alltäglich geübten Handlungsgewohnheiten, beispielsweise, sind bestimmt durch den implizierten Glauben an einen dauerhaften Fortschritt, wie er in der griechisch-römischen Antike oder dem Orient unbekannt war. Der wurzelt in judeo-christlicher Teleologie.“ (Teleologie als Vorstellung des Zielbestimmung des Seins, ähnlich auch die eschatologische Hoffnung auf „Vollendung“.) Und er behauptet, dass wir selbst dann, wenn wir Darwins Evolutionsidee für plausibel halten, derzufolge alle Lebewesen miteinander in einem wortwörtlichen Sinne verwandt sind, „in unseren Herzen uns nicht als Teil des natürlichen Entwicklungsprozesses verstehen. Wir sind der Natur überlegen, ihr gegenüber verächtlich und stets bereit, sie beim geringsten Anlass auszunutzen.“

So lange kein anderes Wertsystem als verbindlich akzeptiert worden sei, sagt er (vor dem Hintergrund der Sechzigerjahre), wird sich die „Ökologische Krise“ verschlimmern, bis wir das mit dem Christentum vermachte Axiom in der Tat ablehnen werden, wonach die Natur keinen anderen Daseinszweck erfüllt als den, dem Menschen dienstbar zu sein. Gangbare alternative Wertvorstellungen sieht er im Buddhismus angelegt und in der Bewegung naturverbundener junger Amerikaner seiner Zeit, doch warnt er vor Versuchen, die Beseeltheit der Welt mit der christlichen Weltsicht zu verbinden. „Für einen Christen darf ein Baum nicht mehr sein als ein physisches Faktum. Das ganze Konzept des Heiligen Haines ist dem Christentum wie dem westlichen Ethos fremd. Fast zweitausend Jahre lang haben christliche Missionare heilige Haine gefällt, die ja dem Götzendienst dienen, weil sie auf der Annahme gründen, dass in der Natur Geist sei.“

Lynn Whites Text vermag uns Lesende immer noch aufzurütteln und zum Nachdenken zu bringen. Dass White die Möglichkeit ganz und gar ausschliesst, dass ein Christ einen Baum nicht nur als „physisches Faktum“ wahrnehmen könnte, erscheint mir ein wenig übertrieben. Öfters hatte ich jedenfalls das Vergnügen, bei Konferenzen und Tagungen über Umweltprobleme mit Pfarrern und Kirchenmenschen ins Gespräch zu kommen, die Bäume als geliebten Bestandteil ihrer Umwelt beschrieben. Vielleicht handelte es sich dabei lediglich um eine Liebäugelei auf rein metaphorischer Ebene, ich kann aber nicht ausschliessen, dass sie den Bäumen eine eigene geistige Präsenz zugestanden. Und auch wenn ich die offiziellen Stellungnahmen der Kirchen nicht kenne, auf deren Grundlage einzelne Pfarrer von ihren Vorgesetzten beurteilt werden, so beobachte ich doch, dass es angesichts der Fortentwicklung von Whites „ökologischer Krise“ viele wohl wohlgemeinte Versuche auf kirchlicher Seite gibt, die harsche Dogmatik etwa der Schöpfungsgeschichte zu mildern oder umzudeuten. Interessant, dass White selbst am Ende auf Franziskus von Assissi als auf einen Hoffnungsträger deutet, der eine geschwisterliche „Demokratie der Dinge“ an die Stelle der vorherrschenden Entseelung zu setzen versuchte. Wer weiss, vielleicht findet der theologische Diskurs einen Zugang, den Erhalt der artübergreifenden Gemeinschaft von Lebewesen zu stützen?

Als Aussenstehender wünsche ich viel Erfolg. Das Projekt der Re-Animation der natürlichen Mitwelt wird von vielen auf vielen Wegen verfolgt. Wir haben, so denke ich, eine Chance, gemeinsam anzukommen.

5 Kommentare zu „Die Entseelung der Natur bringt die Ausbeutungs-Lizenz mit sich

  1. Ein schöner Bogen, dan du da spannst. Auf meine „Spiritualität“ angesprochen möchte ich überhaupt nur das Naturreligiöse gelten lassen, dem ich mich als Mensch immer mehr verpflichtet fühle. Mit jedem Schritt im Wald, mit jedem Atemzug draussen, beginne ich mich dabei zu wandeln.

    Like

  2. Hallo, ich bin sehr dankbar für diesen Text. Geboren in Erfurt, erinnere ich mich gut an das große Gemälde im Rathaus, auf dem Bonifaz die Wodanseiche fällt. Spöter stand dort das erste Kloster, auf dem Petersberg. Auch im Harz, um den alten Druidenstein herum (Trautenstein) wirde eine Kirche und ein Pfarrhaus errichtet, um den Ort zu „entmystifizieren“.
    All das finde ich bedauernswert. Doch zwei Impulse möchte ich teilen- was ist mit der Wahrnehmung des göttlichen in der Natur, wie sie Jakob Böhme beschrieb? Baut das nicht eine Brücke zwischen Gott und beseelten Dingen?
    Und: ich kann Whites Sicht nur teilweise zustimmen, da ich in der Schöpfungsgeschichte nicht unbedingt ein Mensch als „Herrscher“ und Natur als „Diener“ sehe, sondern dem Menschen die sehr verantwortungsvolle Aufgabe eines Gärtners zugeordnet wurde. Dieser ist damit beauftragt, sich zu kümmern. Leider haben wir diese Aufgabe vernachlässigt.

    Like

  3. Danke für die Impulse. Zu beiden Themen – Mystik und „stewardship“ (Gärtner-Rolle) – ist viel gesagt worden. Trotzdem bleiben sie weiter interessant. White hat die Schöpfungsgeschichte wörtlich zitiert und Folgen für Weichenstellungen der Vergangenheit gezeigt. Die Fürsorge-Idee ist eine neue Lesart: Sympathisch, man möchte wünschen, dass diese Sichtweise die Oberhand gewinnt. Vielleicht in der Zukunft? Ich selber halte das Thema der mystischen Erfahrung (Jakob Böhme) für noch interessanter. Auch deshalb, weil das mystische Verschmelzen mit der Welt in vielen Religionen erscheint. (Im Islam z.B. bei den Sufi). Meist gelten sie den Kirchen usw. als verdächtig und oft werden sie verfolgt. Vielleicht gerade wegen ihrer Offenheit gegenüber der Natur? Ein interessanter Gedanke, zu dem ich noch bei Thomas Merton nachlesen werde.
    Danke schön!

    Gefällt 1 Person

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: