
Wikimedia Commons: © Günter Seggebäing, CC BY-SA 3.0 „Die Hauptsterne des markanten Sternbilds Orion am Abend des 11. Februar 2017 nahe ihrer Südposition. Aufnahmeort ist Coesfeld in Nordrhein-Westfalen. „
Wir sind hier mitten im Winter, abends steigt Orion hinter der Weissbuche auf, und Stunden lang steht seine prächtige Gestalt über den kahlen Zweigen der Mirabellenbäume. Das Sternbild zwingt mich zum Hinschauen, ein Augenmagnet. Ich bleibe stehen, es dringt durch die Sinne ins Hirn, ein mächtiges Superzeichen, wie ein Kunstwerk perfekt gesetzt und unentzifferbar wie die Flammenschrift an der Wand. Viele neue astronomische Daten dazu sind entdeckt und publiziert worden, aber die alte Faszination bleibt davon unangetastet. Heut hält mir der Orion den Spiegel vor, und ich denke an das Denken, das er hervorruft. Seit es Menschen gibt, müssen sie den Orion angestaunt haben, ähnlich wie ich, als Himmelszeichen von ominöser Bedeutung, als geometrisch vollkommene Figur, als Studienobjekt. Im alten Ägypten soll die Konstellation den Namen „Osiris“ getragen haben, nach dem Gott, der die leibliche Wiedergeburt verhiess. Jeder einzelne Stern, Sternhaufen und Sternennebel darin hat einen eigenen Namen – meist einen arabischen.
Links oben gross und orangefarben Beteigeuse, und gegenüber rechts unten blauweiss und ebenso gross Rigel. Saiph links daneben leicht unten und Bellatrix oben rechts und unterhalb von Beteigeuse schliessen den Rahmen der Hauptgestalt. Die Reihe der drei schräg und in einer Linie sitzenden Gürtelsterne Almitak, Alnilam und Mintake (unterhalb von Almitak übrigens der Pferdekopfnebel, der ohne Fernrohr nicht zu sehen ist) fällt so sehr ins Auge, dass im alten China „Shen“ – „drei“ der Name des gesamten Zeichens war. Darunter, senkrecht, die drei „Trapezsterne“, auch „Schwertgehänge“ genannt oder, unter Angehörigen der jüngsten Sterngucker-Generation, „Orion’s dong“: Der obere, Mizan Batil, entpuppt sich beim genauen Hinschauen schon mit Hilfe eines Fernglases als Sternhaufen, und der mittlere darunter ist der berühmte Orion-Nebel mit der neuzeitlichen Benennung M42, während der untere Hatsya, Nair AlSaif, ein „Reiterlein“ zu tragen scheint wie das auf dem Deichselstern im Sternbild Grosser Bär, nur umgekehrt: Das Reiterlein zeigt sich hier als Kunstreiter unter dem Bauch seines Partnersterns.
Alnilam, der mittlere der Gürtelsterne, gewissermassen der Bauchnabel des Orion, ist von extremer Leuchtkraft – das 375tausendfache unserer Sonne -, aber 1200 Lichtjahre entfernt. Die Lichtjahr-Entfernungen sind ganz unterschiedlich (z.B. Beteigeuse 427, Rigel 700-800, Saiph 722, Mintaka 916), die Sterne hängen oder kreisen in den Tiefen des Raumes auf verschiedenen Ebenen, ihr Licht trifft unser Auge in zufälliger Zusammenstellung. Aber wir finden ein Muster und nehmen es für perfekt und nennen es bei althergebrachten Namen, die wir nicht verstehen, aber gleichwohl in unser Weltbild aufnehmen. Nichts bleibt wie es ist, Beteigeuse zum Beispiel ist ein so alter Stern, dass Astronomen mit seiner Explosion als Supernova schon in nächster Zeit (irgendwann im Zeitraum zwischen 1000 – 100 000 Jahren) rechnen. Weshalb neige ich trotzdem dazu, das Sternbild als quasi unvergänglich wahrzunehmen, als ob es einen Rest der Vorstellung der Philosophen im alten Griechenland präsentierte, wonach es Dinge gibt, die von der Vergänglichkeit unserer Lebenserfahrung so weit entfernt sind, dass sie in einer abstrakten Welt der Ideen ganz unverändert fortbestehen bleiben?
Wahrscheinlich hängt mein unwillkürliches Beharren mit der Erwartung zusammen, dass es irgendwo eine Ausnahme von der Vergänglichkeits-Regel geben sollte, gewissermassen einen fixierten Hintergrund der dauernden Veränderungen, die wir überall anderswo beobachten und denen wir selber unterliegen. Ein ähnliches Motiv mag die alten Philosophen zur Annahme einer zweiten Welt der Unveränderbarkeit bewogen haben, deren Abbild in Gestirnen oder genauer, in den Gesetzmässigkeiten des Auftauchens der Sterne am Himmel zum Vorschein kommt. Umso kühner, dass auch da Spuren des vermenschlichenden Zugriffs erscheinen, jenes uralten Dranges der Spezies, menschliche Züge auf nichtmenschliche Entitäten zu projizieren und Tiere, Pflanzen, Landschaften, Sternbilder, Geistwesen und selbst Götter anthropomorph – in Menschengestalt – wahrzunehmen und abzubilden. Orion ist – in den verschiedenen Skizzierungen des Sternbilds und in den Namen, die jeweils eine eigene Geschichte erzählen und einen eigenen anthropomorphen Blick belegen – ein Beispiel für diese Vereinnahmung, die sich auch auf die abstraktesten, fernsten und fremdesten Konstellationen am Nachthimmel erstreckt.
Einen Grad ähnlicher Abstraktheit erreicht wahrscheinlich nur die Vermenschlichung der Gestalten von Göttinen oder Dämonen, deren Auftauchen in der Welt ja selbst ganz aus menschlichen Ahnungen und Emotionen hervorgeht, so dass man von einer Vermenschlichung zweiten Grades sprechen könnte. Ich hoffe, die von mir hier gewählte Abbildung ist anstelle der üblichen Bilder aus dem „Reineke Fuchs“ oder von „ThreeCPO“ (3CPO) aus „Star Wars“ akzeptabel. Das Bild des Dämons geht sozusagen einen Schritt weiter, belegt nicht nur die Projektion einer Menschengestalt, sondern eine Wechselwirkung zwischen dem menschlichen Betrachter und seinen eigenen Gefühlen, was hier quasi expressionistisch erscheint. Ich gestehe, dass die Betrachtung dieser kleinen Skulptur im Louvre mich auf befremdliche Weise berührte, als ob sie immer noch die Kraft habe, eine Erinnerung an uralte Ängste hervorzurufen. Diese assyrische Figur, ein Beispiel für doppelten Anthropomorphismus, erleichtert vielleicht den Zugang zu dem Wechselwirkungs-Konzept, das Merlin Sheldrake in den biologischen Diskurs eingebracht hat.

Auf der Rückseite der Skulptur (laut Postkartenaufschrift) folgende Inschrift: „Ich bin Pazuzu, Sohn des Hanpa. König der bösen Geister in den Winden, die gewalttätig aus den Bergen einfallen und im Lande wüten. Der bin ich.“
Die Neigung, Dinge der Natur in menschlicher Gestalt wahrzunehmen, ist alt und mächtig, steht aber der Erkenntnis anderer Wesenheiten im Wege, – deren Andersheit ja gerade darin liegt, dass sie nicht dem menschlichen Muster folgen. Der Pilzforscher Merlin Sheldrake hat diese Schlussfolgerung in Sinne eines Selbstschutzes vor den abgründigen Zumutungen der Andersheit formuliert: „Wenn wir die Welt vermenschlichen, schützen wir uns davor, das Leben anderer Lebewesen zu ihren eigenen Bedingungen verstehen zu müssen.“ („Verwobenes Leben“ Berlin: Ullstein 2020, S. 67)
Wie eine Illustration dieses Ausweichens vor der Fremdheit anderer Wesen erscheint mir folgende Erinnerung an die vielen Schulstunden, in denen ich Versuche zum „Philosophieren mit Kindern“ beobachtete. Ein beliebtes Thema war die Frage „Können Pflanzen glücklich sein?“. Die meisten Kinder scheinen in kindlicher Grossherzigkeit spontan guten Willens, Pflanzen diese schöne Erfahrung – im Rahmen der Möglichkeiten von Pflanzen – zuzugestehen. So auch in dieser Stunde. Der junge Lehrer bringt Einwände vor, die Kinder verteidigen das Pflanzenglück, bis er die Rolle des Mitdiskutierenden durchbricht und sein vermeintlich überlegenes Erwachsenenwissen einspielt: Leider fehle den Pflanzen das Hirn, dieser zentrale Nervenknoten, den wir im Kopf haben. Der sei zuständig für das Glücksgefühl, und weil Pflanzen kein Hirn hätten, bleibe ihnen der Zugang zum Glück unglücklicher Weise verschlossen. – Die Geschichte liegt Jahrzehnte zurück. Ich hoffe, dass der damals junge Mann sein Argument heute nicht mehr vertritt. Vielleicht hat er inzwischen erkannt, dass zwischen Glück und Hirn kein logisch zwingender Zusammenhang besteht, und wahrscheinlich hat er davon gehört – es ist ja dazu einiges veröffentlicht worden, u.a. eine Sendung mit der Maus zum Thema „Warum hat der Oktopus acht Arme?“ – dass das Hirn von Kraken (Octopoda) – aussergewöhnlich intelligenten Tieren – sich über Kopf und Arme erstreckt, oder dass Seesterne über eine ringförmig umlaufende Nervenbahn anstelle eines Hirnes verfügen. Möglicherweise können uns Daten wie diese den Gedanken erleichtern, dass wir die Glücksmöglichkeit für Pflanzen nicht mit Gewissheit ganz ausschliessen können. Dass ihr Organismus völlig anders konstruiert ist als der unsere, liefert kein zwingendes Ausschlusskriterium für Glücksgefühle, – zumal diese Gefühle etwas sind, das wir in der Natur doch allenthalben meinen ablesen zu können, von dem manchmal ein wenig übertriebenen Getue unseres Hundes bis zur völlig übertriebenen Blütenpracht eines wohl versorgten Rosenstocks.
Womit man wieder bei der Vermenschlichung anlangt, jenem rätselhaften Drang, der womöglich in eine Falle (namens Anthropomorphismus) führt, die uns an der Erkenntnis der Andersheit anderer Lebewesen hindert und von manchen Biologen als Sünde erachtet wird. Der Sündenvorwurf verfolgt eine Neigung, die wir, ähnlich wie die vom Heiligen Augustinus ermittelte Erbsünde unserer sexuellen Neigung, nicht leicht los werden. Hilfreich erscheint da, dass Merlin Sheldrake neben der Warnung vor ihr auch Zweifel an der Sündhaftigkeit des Anthropomorphismus vorträgt. Er fragt: „Gibt es Dinge, die wir mit einem solchen Standpunkt (keine Vermenschlichung! H.S.) ausser Acht lassen – oder überhaupt gar nicht erst wahrnehmen?“ (Sheldrake, ebenda)

Sheldrake zitiert Darwin 1862 über die Lage der Antennen bei einer Orchideenart, die einem Mann gleiche, „der den linken Arm erhoben und so gebogen hat, dass die Hand vor der Brust steht, während der rechte Arm weiter unten quer über den Körper ragt“. Und Sheldrake stellt zu diesem Zitat die Frage: „Vermenschlicht Darwin damit die Blume, oder lässt er sich von der Blume verpflanzlichen?“ Er sieht beides belegt, weil Darwin auch ein neues Bild des männlichen Körpers in Form einer Blume zeichne, und kommt zu folgender allgemeiner Schlussfolgerung: „Man kann kaum irgendetwas erklären, ohne dass ein kleiner Teil dieses Etwas auf uns abfärbt.“ Unter den Beispielen, die er nennt, ist die Gestalt der Bäume besonders einleuchtend: Bäume tauchen überall auf, als Darstellung von Verwandtschaftsbeziehungen, als Dendriten im Nervensystem und unter dem gleichen Namen („Dendros“ griechisch „Baum“) bei fossilen Ablagerungen in Sedimenten, als Datenmuster in der Informatik. Offenbar informiert die Baumgestalt unsere Denkweise und beeinflusst unsere Phantasie. (S. 320/321)
Wahrscheinlich geht die von Sheldrake in der Literatur aufgespürte Wechselseitigkeit der Beziehung über derartige Denk- und Phantasieeinflüsse hinaus, vielleicht ist sie auf eine quasi körperliche Weise mit unserer Umwelt verzahnt. Wäre in diesem Fall nicht auch die Neigung erkennbar, aus der Umwelt, die wir beobachten und untersuchen, eine Mitwelt zu machen, in der wir neben anderen Lebewesen leben?

(In: The Guardian Roger Deakin remembered
Robert Macfarlane on the life and work of an extraordinary friend, Sat 8 May 2010)
Aus der Sammlung von Notizen, die der englische Naturschriftsteller Roger Deakin hinterliess, ist ein Buch mit dem Titel „Notes from Walnut Tree Farm“ zusammengestellt und 2008 publiziert worden, in dem er u.a. seine vielen Tätigkeiten um Haus und Garten beschreibt. Keine davon ohne seine naturfromme und rebellische Nachdenklichkeit, die uns Lesenden an seinen Büchern gefällt. Hier ein Zitat über das Heckenschneiden, das einen frischen Blick auf unsere Anthropomorphismus-Debatte öffnet:
„So war ich mit meiner Hippe bei der Arbeit, als ich leicht daneben zielte und die scharfe, flüchtige Klinge direkt durch den Lederhandschuh fuhr und ein Filetstück aus meinem Daumenballen schnitt. Der plötzliche scharfe Schmerz, die Überraschung, der Schock, dann die sofort einsetzende Selbstbezichtigung – alles noch lebhaft da. Aber was wirklich tief eindrang, war die unvermittelte und überwältigende Erkenntnis dass dies das ist, was der Baum fühlt. Es war ein echter Moment der Einsicht, wie ihn Gerald Manley Hopkins benannt hatte, ein urplötzlich erleuchtender Impuls von Mitgefühl mit, in diesem Fall, dem Haselbaum, dem lebenden, grünen Haselzweig. Am Abend vorher hatte ich Hopkins‘ Gedicht „Pappeln im Binsey Park“ gelesen. Der rote Saft wallte auf und tropfte über den Handschuh. Ich zog ihn vorsichtig ab und band mein Taschentuch fest um den Daumen, eine wortwörtliche Pfropfung des abgetrennten Fleisches. Als ich das Feld hinaufging zum Erste-Hilfe-Kasten in der Werkstatt, wiederholte ich das Hopkins-Gedicht im Kopf, und fühlte den Schmerz den er fühlte, wie es mir immer geht, aber diesmal in meinem eigenen zerbrechlichen Fleisch klopfend.
O if we but knew what we do When we delve or hew - Hack and rack the growing green!"
(Roger Deakin: Notes from Walnut Tree Farm. London: Penguin 2008, S. 58. Übers. H.S.) Könnte dieser Vers „O wenn wir nur wüssten was wir tun, Wenn wir graben oder schneiden – das wachsende Grün hacken und quälen!“ nicht zum Leitwort eines Programms zur Vermenschlichung der Natur werden, die nicht Kontrolle und Herrschaft, sondern eine Teilhabe an der Existenz der Dinge im Sinne des Wortes „Mitwelt“ im Blick hat?
Sheldrake bringt ein weiteres Argument in die Debatte, die Prägung unserer Weltsicht durch Sprache. Auf den ersten Blick mag dies eher abstrakt oder „akademisch“ daherkommen, tritt aber zunehmend lebenspraxisnah und konkret hervor, wenn man der Kronzeugin zuhört, der Sheldrake einen Auftritt gewährt: Robin Kimmerer ist von Beruf Hochschullehrerin für Bryologie (Wissenschaft von den Moosen) und von Herkunft Angehörige des Volkes der Potawatomi. Ihre Weltsicht ist durch die indigene Kultur und Sprache ebenso geprägt wie durch die wissenschaftliche Arbeit. Das macht sie als Gesprächspartnerin interessant. Sheldrake zitiert ihre Aussagen über eine Ureinwohner-Sprache, die durch Verbformen bestimmt ist, die nicht nur der menschlichen Welt Belebtheit und Seele zugestehen. Das Wort „Hügel“ etwa erscheine in der Bedeutung von „Hügel sein“ : „Hügel befinden sich im Zustand des Hügel-Seins, sie sind aktiv Hügel.“ (S. 67) Die Sprache verfolgt eine Spur, die es erschwert, andere Wesen auf ein „es“ zu reduzieren und vielmehr umgekehrt darauf angelegt ist, ihre Existenz anzuerkennen. Sheldrake gesteht zu, dass diese Sprache den Zugang zu einer Dimension des Daseins anderer Lebewesen offen hält, den die strikte Vermeidung von Anthropomorphismen verschlossen hält. Am Ende votiert er aber doch eher für eine Sicht, bei der die Andersheit anderer Lebewesen (vor allem die seiner geliebten Pilze) im Blick bleibt: „Sind wir vielleicht in der Lage, einige Konzepte so zu erweitern, dass Sprechen nicht immer einen Mund und Hören nicht immer Ohren erfordert, und dass auch Interpretation nicht immer ein Nervensystem voraussetzt? Können wir so etwas tun, ohne andere Lebensformen mit Vorurteilen und Anspielungen einzuengen?“ (S. 67/68)

Robin Kimmerers Texte vermitteln bryologisches Fachwissen und sind gleichzeitig radikal anthropomorph. In manchen Texten hält sie die mooskundlich-wissenschaftliche Lektion vom familienbezogenen Narrativ sauber getrennt: Nichtkursiv gedruckte Abschnitte, in denen sie die wasserspeichernde Funktionen der Moosart Dendroalsia in ökologischer Gesamtschau – Überleben in Zeiten der Trockenheit – entwickelt, wechseln mit kursiv gedruckten Passagen, in denen sie Sterben und Tod ihres Grossvaters als Familienereignis so schildert, dass am Ende des Narrativs die jeweiligen Muster des Fortbestands der Arten als übergreifende Lebensfigur sichtbar werden. (Robin Wall Kimmerer: Gathering Moss. A Natural and Cultural History of Mosses. Oregon State Univ. Press 2003; das Erscheinen einer deutschsprachigen Fassung – „Das Sammeln von Moos“ – ist bei Matthes&Seitz in Berlin für den 12.5.2022 angekündigt.)
Ich finde es verblüffend, wie leicht und eingängig diese Texte sich lesen lassen, und vermute, dass die ihnen innewohnende indigene Weltsicht eine Selbstverständlichkeit mit sich bringt, die sich sozusagen unter der Hand mit unserer Neigung verbindet, die Welt unter Begriffen der Mitwelt zu verstehen, sofern diese Neigung nicht verschüttet ist durch die Gewohnheit, die Dinge der äusseren Welt als von uns total getrennte Objekte wahrzunehmen.
Im Text über die faszinierende Wirkung des Sphagnum-Mooses beschreibt sie eine solitäre Exkursion ins Moor, das durch die besondere Lebensweise dieser Moosart zustande kommt: Die Pflanze lebt in einer oberen grünen Schicht, bildet aber meterlange Skelettformationen, die das Wasser des Moores wie ein Schwamm halten und dessen Chemie bestimmen, so dass im Moor keine Abbauprozesse durch Verwesung möglich sind, aber Torfschichten entstehen. Sie beschreibt, wie sie auf dem schwingenden Boden des Moores zu gehen und zu tanzen gelernt hat, und erzählt von der Wassertrommel der Potawatomi. Der Text endet mit der anthropomorphen Bekundung einer Selbstwirksamkeit, die, so scheint mir, eine neue Dimension des Mitwelt-Gedankens erschliesst: „Tanzend schicke ich die Kunde meiner Gegenwart durch den Moortorf, und spüre als Antwort das grollende Schwingen der nach Osten rollenden Eisenbahnräder, die meinen Grossvater, nur neun Jahre alt, zur Carlisle Indianerschule fahren, wo man zum hartnäckigen Rhythmus von „Töte den Indianer und rette den Menschen“ tanzt. Dunkler Torf, dunkle Zeiten, die Wassertrommel verliert fast ihre Stimme. Erinnerung, wie Torf, verbindet die Toten mit den Lebenden. Der Geist, wie das Wasser, von unten her aufgesogen, Hand um Hand von den wassergefüllten Tiefen zur ausgedörrten Oberfläche hinauf, wo mein Grossvater in den Baracken des Internats lebt. Das hat ihn am Leben gehalten. Sie haben den Indianer nicht umbringen können. Denn heute tanze ich auf einer Wassertrommel aus Torfmoor in einem Land mit weiten blauen Seen, wo die Tauchervögel rufen. Tanzend schicken meine Füsse die Nachricht von meiner Gegenwart in Wellen durch die Torfmoore, und in Wellen des Erinnerns schicken die eine Nachricht von ihrer eigenen Gegenwart zurück. Wir sind noch hier. Wie die lebende Oberfläche von Sphagnum, der grünen Schicht im Sonnenlicht am oberen Ende der Säule der dunklen Anhäufung des Moores, als einzelne vergänglich, in der Gemeinschaft dauerhaft. Noch sind wir hier.“ (p. 125/126, über. H.S.)
– Dieser Blogtext – die Zitate, die Argumente, die Belege – sind als ein erster Schachzug kalkuliert. Er dient vor allem dazu, die nach meinen Beobachtungen verbreitete totale Abwehr von Anthropomorphismen aufzuweichen. In einem Folgetext möchte ich liefern, was noch fehlt: Ein Narrativ, das die Anthropomorphismus-Frage in einen umfassenderen historischen Zusammenhang stellt.